Blauer Dunst*

Sobald es Winter wird, stehen sie wieder frierend auf Deutschlands Straßen – die 20 Millionen Raucher. Denn das Rauchverbot vertreibt sie seit 2003 aus Restaurants, Theatern, Universitäten und sogar von Bahnhöfen. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren leicht gesunken, vor allem weil weniger junge Menschen rauchen. Das Land hat sich zum Vorteil vieler verändert.

Berliner Hauptbahnhof: Raucher raus. / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Helmut Schmidt, den elder statesman*, hochgelobten Hamburger Innensenator während der Sturmflut 1962 und als Bundeskanzler kühlen Manager im Kampf gegen den deutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre, kannte niemand ohne Zigarette. 80 Jahre qualmte* er leidenschaftlich und seit dem Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden genoss er einen Sonderstatus, der ihm auch in Theatern und Talkshows seine Gewohnheit ließ. Am 10. November ist sein Leben nach 96 Jahren zu Ende gegangen. Angesichts eines solch langen Lebens wäre es absurd zu sagen, er sei am Rauchen gestorben.

Die Politik sieht es allerdings als ihre Pflicht, jeden Menschen vor dem Rauchen zu schützen und deshalb gelten jenseits des Einzelfalls Regeln: Zigarettenpackungen tragen Aufschriften wie „Rauchen kann tödlich sein“, Zigarettenautomaten sind nur mit Altersnachweis zu benutzen und Werbung im Kino ist verboten. 2001 rauchte mehr als jeder vierte Jugendliche, 2014 nur noch jeder zehnte. Auch bei jungen Erwachsenen sank die Quote um 10 Prozent. Andere Entwicklungen sind zwiespältiger*.

Während früher im Büro jeder pausenlos beschäftigt schien, da eine Zigarette zwischen zwei Fingern gehalten werden konnte, ohne die Arbeit zu behindern, werden jetzt zahlreiche Rauchpausen an der frischen Luft eingelegt. Pausen sind gesund, sie machen den Kopf frei, entspannen die Rückenmuskulatur und fördern die Kommunikation. All das kommt der Produktivität und somit Firmen wie Gesellschaft zu Gute.

Restaurantinhaber atmen auf, da die kürzer gewordene Verweildauer* vieler rauchender Gäste den Umsatz steigert. Früher unterbrachen diese zwischen Suppe, Schnitzel und Dessert ihr Essen für die ersehnte* Zigarette, was den Aufenthalt in die Länge zog und die Tische blockierte. Die Gastronomen freuen sich auch aus einem weiteren Grund: Wer nicht raucht, kann mehr Alkohol trinken, ohne am Morgen mit einem Kater aufzuwachen. Und selbst die stärksten Raucher, die trotz sibirischer Temperaturen vor der Tür ihrer Lust frönen*, schaden dem Geschäft nicht, denn zum Aufwärmen bestellen sie Alkohol. Bedenklich ist nur das rebellische Gedankengut*, das die einander fremden Gesinnungsgenossen im Dunkeln austauschen und das sich jeglicher Kontrolle entzieht.

Die Krankenkassen, obwohl für Kranke zuständig, bevorzugen traditionell gesunde Mitglieder. Von den Nichtraucher-Gesetzen profitieren sie nun zweifach. Kalkuliert haben sie mit der Abnahme der Lungenkrebserkrankungen. Unerwartet schlagen aber auch die unbelehrbaren Raucher positiv zu Buche*, da ihr ständiger Wechsel zwischen warmen Büros und eisigen Eingangsbereichen, zwischen gemütlichen Restaurants und zugigen Straßenecken zu einer solchen Abhärtung* führt, dass das Immunsystem jedem Virus zu trotzen vermag*. Nur ein Phänomen macht den Krankenkassen Sorgen, erkrankt doch die lange vor Gesundheit strotzende* Bevölkerung später umso kostspieliger: Demenz, Diabetes, Parkinson.

Die Rentenversicherungen dürften die Herausforderung der steigenden Lebenserwartung dagegen bald meistern, denn auf den Zigarettenpackungen wird erklärt: Rauchen tötet Spermatozyten und ungeborene Kinder. Nehmen sich das alle zu Herzen, löst sich das demographische Problem, weil wieder genug Menschen zur Welt kommen, die den Senioren die Rente zahlen können.

Die schönste Hommage an das Rauchen und eine Ikone der europäischen Kultur dürfte dem Rauchverbot allerdings zum Opfer fallen: Jean-Luc Godards Film „Außer Atem“ mit Jean-Paul Belmondo in der Hauptrolle. Denn die Zärtlichkeit seiner Geste, wenn er sich mit der ewigen Zigarette zwischen den Fingern beim ersten Blick auf Jean Seberg über die Lippen streift, wird in einer raucherfreien Welt nicht verstanden werden. Und wenn der leidenschaftliche Raucher am Ende des Films den Rauch seiner letzten Zigarette aushauchend* stirbt, hat ein Schuss in den Rücken sein Leben beendet. Rauch kommt nur noch aus der Pistole.

 

 

 *Lesehilfe
der Dunst: feiner Nebel; blauer Dunst: Zigarettenrauch, (Metapher) nicht ganz glaubwürdige Geschichte
elder statesman: ehemaliger wichtiger Politiker, den die Öffentlichkeit weiter sehr schätzt
qualmen: stark rauchen
zwiespältig: ambivalent, widersprüchlich
die Verweildauer: Dauer des Aufenthalts
ersehnen: stark wünschen
seiner Lust frönen: seine schlechte Gewohnheit genießen
das Gedankengut: Weltanschauung
zu Buche schlagen: finanzielle Auswirkungen haben
die Abhärtung: Maßnahmen zur Stärkung des Immunsystems
vermögen: können
vor Gesundheit strotzen: sehr gesund sein
aushauchen: vorsichtig ausatmen (das Leben aushauchen: sterben)

 

 

 

 Aufgaben
1. Im Text gibt es das Verb „aufatmen“. Mit welchen anderen Vorsilben existiert es?

2. Was bedeutet der letzte Satz des Textes?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Lösungen

 

1. aus, be, durch, ein
2. Rauchen ist nur ein möglicher Weg zum unausweichlichen Tod

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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