Das Notwendige wollen

Jedes Jahr am 5. Dezember, dem Internationalen Tag des Ehrenamtes, empfängt der Bundespräsident einige der Millionen Ehrenamtler Deutschlands in seinem Dienstsitz Schloss Bellevue in Berlin. Damit lässt er Menschen, die sich in ihrer Freizeit gesellschaftlich engagieren, die Ehre zukommen, von der sie leben. Denn bezahlt wird dafür niemand.

„Wie überall in Deutschland: In Flensburg treffen Flüchtlinge auf Freiwillige.“ / Julia Larina

Von Lucia Geis

Wer kennt nicht von Kollegen oder sich selbst den Ausruf „Endlich Feierabend, endlich Wochenende!“ Helmut Kohl warnte in den 80er Jahren, Deutschland werde zum „Freizeitpark“. Dabei liegt ein großer Teil der Deutschen selten auf der Couch.

2014 stieg die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse zum achten Mal in Folge und erreichte 42,6 Millionen. Immer häufiger wird über die zunehmende Arbeitsbelastung gestöhnt, Burn-Out* heißt das Schlagwort. Warum aber arbeiten Menschen (die Zahlen schwanken zwischen 12 und 23 Millionen, je nachdem, wie „Ehrenamt“ definiert wird) dann zusätzlich freiwillig?

Menschen

Im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales brach im Sommer dieses Jahres das Chaos aus. Die Behörde stand den vielen ankommenden Flüchtlingen überfordert gegenüber. Erst seitdem die Nachbarschaftsinitiative „Moabit hilft“ auf ihrer Internetseite über Möglichkeiten zur Unterstützung informiert und dazu aufruft, eigene Angebote zu machen, entspannt sich die katastrophale Lage, da die Resonanz immens* ist. So gelingt es inzwischen, Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge einigermaßen zu gewährleisten*: Freiwillige geben Essen aus, erteilen Sprachunterricht, sammeln Spenden, helfen bei Behördengängen. Bis zu 800 Ärzte impfen* und kümmern sich um Kranke. Im Oktober wollte der Senat die Helfer mit einem Empfang ehren, aber sie sagten die Teilnahme ab. Die Politik halte ihr Versprechen nicht ein, alles für eine Verbesserung der Situation zu tun, und noch immer müssten Menschen in Regen und Dreck warten. 58 000 waren es bis jetzt in diesem Jahr, allein seit September rund 30 000. Mitte November stellte der Regierende Bürgermeister Michael Müller endlich einen 9-Punkte-Plan vor.

Fakten

Basierend auf dem „Engagementatlas 2009“ veröffentlichte die Versicherungsgruppe Generali Deutschland beeindruckende Zahlen zum gesamtgesellschaftlichen Nutzen der ehrenamtlichen Arbeit in Deutschland: 4,6 Milliarden Stunden würden jährlich geleistet, was einer Arbeitszeit von 3,2 Millionen Vollzeitbeschäftigten und einem Geldwert von 35 Milliarden Euro entspreche. Diese Summe spart der Staat, wenn Ehrenamtler in Kinderheimen Theater spielen, Menschen beim Sterben begleiten, Brände löschen, Bürgermeisterämter in kleinen Kommunen übernehmen, nach Hochwasserkatastrophen aufräumen und die Fußballprofis von morgen trainieren.

Man könnte vermuten, insbesondere Arbeitslose seien aufgrund vorhandener Zeit ehrenamtlich tätig. Das Gegenteil ist der Fall. Ebenso unzutreffend* ist, dass unbefriedigende Brotjobs* zum Ehrenamt, das die wenig erfüllende Arbeit in der Freizeit ausgleichen könnte, motivieren.

Untersuchungen zeigen vielmehr einen deutlichen Überhang höher gebildeter Schichten mit interessanten Tätigkeiten und gutem Verdienst. Baden-Württemberg als reiches Bundesland mit niedriger Arbeitslosenquote gehört seit Jahren zu den Spitzenreitern*.

Haltungen*

Das Land Berlin hielt 2014 das Potenzial der Hilfsbereitschaft in einigen seiner Bezirke für nicht ausgeschöpft*. Deshalb startete man unter dem Namen „bürgeraktiv Berlin“ eine Online-Plattform, die das Engagement erleichtern soll. Leere öffentliche Kassen dürften bei dem Vorstoß* auch eine Rolle gespielt haben. Ein begleitendes Forschungsprojekt untersucht nun Bedingungen des Engagements, wozu neben dem Bildungs- und Einkommensniveau die Verwurzelung* der Bewohner in ihrem Stadtteil sowie die familiäre Lebenssituation gehört.

Diese Kriterien sind auch deutschlandweit ausschlaggebend*: In dörflichen Regionen ist das Engagement stärker als in Großstädten, in Westdeutschland häufiger als in Ostdeutschland, Singles* engagieren sich seltener als alle anderen. Das können zum Teil Traditionen erklären. Ist der Vater bei der Dorffeuerwehr, folgt der Sohn, dessen Freund dann auch dabei sein möchte. Sei es auch nur aufgrund der Erkenntnis, dass Außenseiter wird, wer nicht mitmacht. In Ostdeutschland fehlt diese Erfahrung, denn in der DDR prägten Staat und Betrieb das Sozialleben. Hinzu kommt: Nur wer daran glaubt, durch Eigeninitiative im Kleinen etwas verändern, etwas besser als der Staat machen zu können, engagiert sich. Dies ist eine zutiefst bürgerliche Vorstellung. Wer dagegen das Gefühl hat, vom Leben betrogen worden zu sein, zieht sich zurück.

Warum sich allerdings Singles in Großstädten besonders zurückhalten, ist schwer zu erklären, böte ihnen die freiwillige Arbeit doch verbindliche Kontakte und Anerkennung. Womöglich leben sie aber gerade deshalb in einer Großstadt und als Single, weil sie Anonymität höher schätzen als vertraute Gruppen und wenig Lust auf Hierarchien und Besserwisserei haben, die in ehrenamtlichen Organisationen manchmal absonderliche* Blüten treiben. Auch im Verein „Moabit hilft“ gab es im November machtpolitische Streitereien, die zum Rücktritt des Vorsitzenden führten. Außerdem zahlen Singles mehr Steuern als Verheiratete. Und davon sollten schließlich Altenbetreuung, Sportvereine und Flüchtlingsversorgung finanziert werden. Wenn aber die Politik Sparsamkeit für die höchste Tugend hält, fehlt in allen sozialen Bereichen das Geld. Allerdings verkündete die Bundesfamilienministerin, ab Dezember im Rahmen des vom Bund geförderten Bundesfreiwilligendienstes 10 000 Stellen für die Flüchtlingshilfe zu schaffen. Diese werden mit einem Taschengeld in Höhe von 350 Euro monatlich bezahlt.

Das ist ebenso erfreulich wie sinnvoll, denn die ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer sind inzwischen erschöpft – überall in Deutschland – und machen trotzdem weiter. Denn sie haben wie alle Ehrenamtler eine Notwendigkeit zu ihrem freien Willen gemacht und den Satz des Aufklärers Immanuel Kant verinnerlicht: „Ich kann, weil ich will, was ich muss.“

 

 

 

 

 *Lesehilfe
Ehrenamtler: Ehrenamtlicher – jemand, der freiwillig und unentgeltlich arbeitet
arm dran sein: sich in einer schlechten Lage befinden
das Burn-Out: psychische und körperliche Erschöpfung
immens: sehr groß
gewährleisten: sicher stellen
impfen: durch Vergabe von Krankheitserregern vorsorglich vor Krankheiten schützen
unzutreffend: nicht korrekt
der Brotjob: Arbeit, die das Überleben ermöglicht, ohne Spaß zu machen
der Spitzenreiter: die Nummer Eins, der Führende
die Haltung: prinzipielle Einstellung
ausgeschöpft: es gibt nichts mehr
der Vorstoß: plötzliche Initiative mit weitreichenden Maßnahmen
die Verwurzelung: (soziale) Verbundenheit
ausschlaggebend: entscheidend
der Single: Mensch ohne Partner/in
absonderlich: merkwürdig (negativ)

 

 

 

 Aufgaben
1) Was ist keine Motivation für ehrenamtliche Arbeit?
a) man hält sie für notwendig
b) man bekommt Geld dafür
c) man glaubt, etwas verbessern zu können

2) Warum gibt es im Osten weniger Ehrenamtler?
a) es gibt mehr Singles
b) es gibt weniger Probleme
c) die Tradition fehlt

3) Im Text steht „Menschen müssten in Regen und Dreck warten“. Müssen sie warten?
a) ja
b) nein

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 1. b 2. c 3. a (Konjunktiv II für indirekte Rede).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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