Das Strampeln* um Anerkennung

Im Land der Autobahnen fahren 44 Millionen Autos, aber 68 Millionen Fahrräder. Es gibt 20 000 Kilometer Radwege entlang der Bundesstraßen und in allen Städten – Zeichen der Renaissance des Fahrrads seit der Jahrtausendwende. Dass 340 000 Fahrräder 2014 als gestohlen registriert wurden, gehört zu den Schattenseiten.

Wohin mit 68 Millionen Rädern? / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Schnell das Rad die Treppe hinuntergetragen und los. Quer durch Berlin zur Arbeit. Eine vielbefahrene Straße ohne Radweg, plötzlich bis zur Kreuzung ein kurzes Stück auf dem Gehweg. Nun eine Kopfsteinpflasterstraße*. Also Holpern*. Vor der nächsten Ampel blockiert ein Auto den Platz für Radfahrer. Dann zwei Kilometer ohne Radspur, gefolgt von einer sogenannten Spielstraße. Autofahrer müssten Schritttempo fahren, tun es aber nicht, sodass der Radfahrer sich zwischen parkenden und rasenden Autos in Sicherheit bringen muss. Schließlich die Erlösung*: ein breiter Radweg, doch sogleich schneidet* ein Bus den Radfahrer, um in die Haltestelle einzubiegen. Eine Dieselwolke umgibt ihn. Kurz darauf weist ihn ein Schild auf den Gehweg. Das heißt: Hindurchschlängeln* zwischen Fußgängern. Weiter auf der Straße. Eigentlich kein Problem, da sie breit genug wäre, gäbe es nicht so viele SUVs*. Der Rest führt durch eine Parkanlage – so schön kann Radfahren sein. Die Fahrradstellplätze am Ziel sind leider wie so oft alle besetzt.

Viele Fahrten durch Berlin verlaufen wie diese. Ein Ammenmärchen* ist, dass hauptsächlich Studierende aufs Rad steigen. Längst treten unterschiedlichste Menschen aus Kosten-, Umwelt- oder Gesundheitsgründen in die Pedale, sodass sich das Radverkehrsaufkommen in den letzten zehn Jahren in vielen deutschen Großstädten verdoppelt hat. Sogar Prominente wie Berlins Staatssekretär für Kulturelle Angelegenheiten Tim Renner strampeln zum Büro. Die Limousine lässt er stehen, mangelnde Stellplätze vor dem Kanzleramt beklagt auch er.

Bösewichter*

Auch wenn Deutschland im internationalen Vergleich als fahrradfreundlich gilt, ist die Infrastruktur für das Radfahren besonders in Metropolen unzureichend. Berlin und Hamburg belegten im deutschlandweiten „Fahrradklimatest“, durchgeführt 2014 vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Сlub (ADFC), nur die Plätze 30 und 35 von insgesamt 39. Hamburg will nun bis 2020 Fahrradstadt werden und plant wie München Radschnellwege, um Zentrum und Umland zu verbinden. Ohne Kreuzungen oder Ampeln und vier Meter breit ermöglichen sie, Autobahnen ähnlich, schnelles Fortkommen und Überholen*. In den Niederlanden und Dänemark existieren sie längst. Problem sind die Baukosten: etwa eine Million Euro pro Kilometer.

Für andere Verkehrsteilnehmer sind Radfahrer oft einfach „Kampfradler“*. Statistiken scheinen ihnen Recht zu geben, verursachten Radfahrer in Berlin im letzten Jahr doch fast die Hälfte der Unfälle. Allerdings war auch nahezu jeder vierte Verkehrstote ein Radfahrer. Das will der deutsche Verkehrsminister Alexander Dobrindt deutschlandweit ändern. Im Mai ließ er Bösewicht Darth Vader aus „Star Wars“ auf riesigen Plakaten für ein längeres Leben dank Helm werben. Dobrindt erntete Hohn* und Kritik: Er verstehe die Straße als Kampfzone, in der sich der Schwächere nur durch einen Kopfschutz vor dem Stärkeren schützen könne. Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) erneuerte seine alten Forderungen: Ziel müsse es sein, Unfälle zu verhindern – durch Tempo 30 in Städten und die Verdopplung der Ausgaben für die Radverkehrsinfrastruktur.

Pioniere

Die geniale Erfindung aus zwei Rädern, Kette, Sattel und Lenker ist inzwischen auch als konkurrenzfähiges Transportmittel unterwegs: Das sogenannte Lastenfahrrad, ungefähr 2,5 Meter lang und ausgestattet mit einer zwischen Rahmen und Vorderrad montierten Kiste, kann mit 100 kg beladen werden. Sind beispielsweise bei einem Umzug nur Kleinmöbel und Bücherkisten in die nächste Straße zu bringen, bietet ein Lastenfahrrad die ideale Lösung. Beworben* wird diese Neuheit mit dem Slogan „Ich ersetze ein Auto“, auch der Preis ab 1600 Euro ähnelt dem eines gebrauchten Kleinwagens. Wirklich freuen dürften sich Autofahrer über sie, entlastet doch jedes von ihnen die Straße. Andere Radfahrer sind dagegen angesichts dieser Vehikel* oftmals wenig glücklich, da sie die schmalen Radwege verstopfen*.

Erholungssuchende

Uneingeschränkt positiv lässt sich die Entwicklung des Radfahrens im Freizeitbereich beschreiben. Der größte deutsche Radtourenanbieter ADFC verzeichnet jährlich mehr Teilnehmer (inzwischen weit über 200 000 pro Jahr), die als stolze Pedalritter* über zwölf Millionen Kilometer zurücklegen*. 40 000 Kilometer Radwanderwege sind erschlossen, über 5500 zertifizierte „Bett+Bike“-Gastbetriebe bieten Unterkunft. Im Ruhrgebiet können Natur und Kultur entlang von Baudenkmälern der Kohle- und Stahlindustrie, die zum Welterbe gehören, per Rad erfahren werden. Der politisch Interessierte findet auf der Internetseite „Politische Radreisen“ Touren durch die deutsche Demokratiegeschichte. Zwischendurch empfiehlt es sich vielleicht, entspannt zu atmen und sich nur auf seinen Körper und sein eigenes Radeln zu konzentrieren, was in Berliner Yogacycling-Kursen erlernbar ist. Ob diese Strategie im alltäglichen Kampfgebiet Straße ratsam ist, darf bezweifelt werden.

 

 

 *Lesehilfe

strampeln: mit einer Beinbewegung Kraft erzeugen; (metaphorisch) kämpfen
das Kopfsteinpflaster: Straßenbelag aus quadratischen Steinen
holpern: ungleichmäßig fahren
die Erlösung: Befreiung von Problemen
jemanden schneiden: jemandem die Vorfahrt nehmen
sich hindurchschlängeln: in Kurven durch etwas fahren
SUV: Geländewagen
das Ammenmärchen: scheinbares, weit verbreitetes Wissen
der Bösewicht: böser Mensch (aber harmlos)
überholen: an einem Verkehrsteilnehmer vorbeifahren
der Kampfradler: aggressiver Radfahrer
der Hohn: böser Spott
bewerben: Werbung machen
das Vehikel: (abwertend) schlechtes Fahrzeug
verstopfen: durch Überfüllung Bewegung unmöglich machen
der Pedalritter: (metaphorisch) heldenhafter Radfahrer
zurücklegen: (hier) fahren

 

 

 

Aufgaben
1. Welches der folgenden Dinge bedeutet für den Radfahrer kein Problem?
a) das Kopfsteinpflaster; b) blockierende Autos; c) Unterkünfte bei Radtouren; d) Lastenfahrräder

2. Warum ist im Satz „Er verstehe die Straße als Kampfzone“ das Verb im Konjunktiv I?

a) Der Minister hätte gerne Kampfzonen;
b) Das Wort „Kampfzone“ ist von den Kritikern der Minister-Kampagne und nicht von der Autorin;
c) Die Kritiker wollen höflich sein.

3. Welcher der folgenden Begriffe ist positiv?

a) verstopfen; b) der Hohn; c) der Pedalritter; d) die Dieselwolke

 

 

 

 

 

 

 

 

 Lösungen

 

 1. c 2. b 3. c

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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