Der Zweck heiligt den Müll

Deutschland gilt als sauberes Land. Ausländische Touristen stehen ratlos vor den verschiedenen Mülltonnen* an Bushaltestellen. Wer Bonbonpapiere auf die Straße fallen lässt, wird für schlecht erzogen gehalten. Kühlschränke im Wald abzustellen, ist strafbar. Silvester verabschiedet das Land jedoch nicht nur das alte Jahr, sondern auch für einen Moment dieses Bewusstsein.

Von Lucia Geis

Müll entsteht, wenn Menschen konsumieren. In Deutschland wie überall. Und die deutsche Bevölkerung konsumiert viel. Auch werden Mehl, Zucker oder Kaffee nicht mehr in mitgebrachte Dosen abgefüllt* wie noch in den Dorfläden der frühen siebziger Jahre. Die Mehrheit trägt Gemüse eingeschweißt* nach Hause und lässt Elektrogeräte, die nicht mehr funktionieren, selten reparieren, denn das ist oftmals teurer als eine Neuanschaffung. Grüben Archäologen im Jahr 3000 die Erde um, fänden sie auch in Deutschland überall Plastik.

Und dennoch ist der Umgang mit Müll zu einer Wissenschaft geworden, die in den Alltag der Menschen Einzug* gehalten hat. Es wird gesammelt, getrennt, wiederverwertet. An den Straßen und in den Höfen stehen Altglas- und Altpapiercontainer, nicht mehr ganz frische Lebensmittel der Supermärkte werden an Bedürftige* verteilt, für defekte Elektrogeräte 5 Euro geboten, ausgediente* Weihnachtsbäume an Tiere im Zoo verfüttert, ausrangierte Kleidung bringt man zum Roten Kreuz oder in den Secondhandladen. Die kommunalen Abfallentsorger* machen mit dem Müll ein Geschäft, das außerdem die deutsche CO₂-Bilanz aufbessert: So gewannen sie etwa 2014 durch Verbrennung der mehr als 850 000 Tonnen Berliner Hausmüll unter Hochdruck stehenden heißen Dampf, der die Basis des Strom- und Heizbedarfs von über 90 000 Haushalte bildete. Die 39 Kilogramm jährlichen Biomülls eines jeden Berliners verwandelten sie in Gas, mit dem die Müllfahrzeuge betankt wurden. Die Menge entsprach 2,5 Millionen Litern Diesel.

Deutschland ist auf dem besten Weg den Waschmittel-Werbespruch der siebziger Jahre „Nicht nur sauber, sondern rein“ zu erfüllen. „Rein“ beinhaltet* immer eine moralische Komponente. Der Philosoph Roland Barthes legte in seinem 1957 erschienenen Buch „Mythen des Alltags“ dar, dass die Beliebtheit waschaktiver Substanzen in Kosmetika die Nachkriegshoffnung spiegele, sich vom schlechten Gewissen zu reinigen: Was kümmert mich meine Schuld von gestern, wenn es möglich ist, die Folgen meines Tuns zu „entsorgen“?

Die Vorsilbe „ent“ bedeutet, etwas wegzunehmen. Genauso wie die Beichte* Christen von ihren Sünden entsühnt* und reinwäscht, nehmen die Entsorger den Deutschen ihre Abfallsorgen, die sie ohne deren Hilfe angesichts ihres gigantischen Konsums nur verdrängen könnten. Solchermaßen entlastet feiern sie dann die Reinheit – deutsches Bier wird nach dem Reinheitsgebot gebraut, und der brave Mann hat sprichwörtlich eine reine Weste und ein reines Gewissen.

Kopfzerbrechen bereitet somit Bevölkerung und Verwaltung nicht das müllerzeugende Konsumverhalten, sondern der Müll in seiner konkreten Gestalt. Im Juli kündigte ein Düsseldorfer Veranstalter an, seine höchst erfolgreiche Party­reihe „Strandpiraten“ am Rheinufer letztmalig durchzuführen, da die Vermüllung durch die Gäste nicht mehr akzeptabel sei. Köln plagt* sich seit Jahren in den warmen Monaten mit Müllbergen in den Grünanlagen, und Berlin überlegte im letzten Sommer, eine Steuer auf Pappbecher, die zunehmend die Straßen verschmutzen, einzuführen. Warum man Kaffee aus Pappbechern trinken und Pizza aus Pappschachteln auf der Straße essen muss und ob das überhaupt schmeckt, fragt niemand.

Die Reste der Feste – der Müll und die Jahreswende. / 3268zauber

Dagegen wird Weihnachten der alltägliche Verpackungswahn zur heiligen staatsbürgerlichen Pflicht. Luxuskaufhäuser wie das KaDeWe in Berlin richten Verpackungsabteilungen ein, ganze Geschäfte verkaufen nichts anderes als Papier, Bänder, Schleifchen und anderen Tinnef*, der dem lapidaren* Geschenk ein wenig Glanz verleihen* soll. Nach der Bescherung* fliegt dieser ganze schöne Schein, zu dessen Herstellung Rohstoffe wie menschliche Arbeitskraft verbraucht wurden, in überquellende Tonnen. Aber dann entfernen die Entsorger die schöne Bescherung und erzeugen daraus die Energie, die erforderlich ist, um die Müllwagen in Bewegung zu setzen. Die Tristesse* des schal* gewordenen Konsumrauschs ist beseitigt, bevor der schmutzigste Tag des Jahres folgt: Silvester – der gesamtdeutsche Ausnahmezustand*. Bis zu 125 Millionen Euro landen dann in Form von Leuchtraketen*, nachdem sie in Großstädten bürgerkriegsähnliche Momente verursacht haben, auf den Straßen. Übrig bleibt verkohlter, nach Schwefel* stinkender, von Regen oder Schnee aufgeweichter* und von Sektflaschen und Erbrochenem* umgebener Matsch*. Dieser Dreck ist die Hinterlassenschaft* des jüngstvergangenen Jahres, das inklusive all seiner Sorgen in einem anarchischen Fest zu Grabe getragen wurde. Für einmal war die Sorge um die Entsorgung still gestellt. Der Kater* am nächsten Tag ist jedoch gewiss, auch bei der Müllabfuhr. Denn die braucht vom folgenden Werktag an mindestens eine Woche, um dem Land wieder das gewohnt wohlige Gefühl bürgerlicher Reinheit zurückzugeben.

 

 

 

 

 *Lesehilfe
verpulvern: zu Pulver machen, sinnlos ausgeben
die Mülltonne: großer, draußen stehender Mülleimer
abfüllen: in einen Behälter füllen
eingeschweißt: vakuumverpackt
Einzug halten: kommen
der Bedürftige: Mensch, der etwas braucht (Armer)
ausgedient: nicht mehr gebraucht
der Abfallentsorger: Müllabfuhr
beinhalten: haben
die Beichte: christliches Sakrament, bei dem der Pfarrer den Gläubigen im Namen Gottes von schlechtem Verhalten freispricht
entsühnen: freisprechen
sich plagen: Probleme mit etwas haben, sich quälen
der Tinnef: billiges, nutzloses Zeug
lapidar: einfach
verleihen: geben, schenken
die Bescherung: Übergabe der Weihnachtsgeschenke; schöne Be­scherung: (metaphorisch) kleine Katastrophe
die Tristesse: traurige Atmosphäre
schal: fade, nichtssagend
der Ausnahmezustand: ungewöhnliche (gefährliche) Situation
die Leuchtrakete: bunt leuchtender Feuerwerkskörper
der Schwefel: chemisches gelbes Element (S); im Schießpulver
aufgeweicht: von Wasser weich geworden
das Erbrochene: erbrochener Mageninhalt
der Matsch: weich gewordene Substanz (z.B. Schnee, Papier, Erde)
die Hinterlassenschaft: das, was übrig bleibt
der Kater: physisches und psychisches Unwohlsein (nach Alkohol)

 

 

 

 

 Aufgaben
1. Wodurch verbessern die Berliner Abfallentsorger die CO₂-Bilanz?

2. In welchem der Wörter bedeutet „ent-“ nicht „wegnehmen“?
a) entsorgen
b) entwerten
c) entsprechen
d) entsühnen

3. Im Deutschen gibt es ein Nomen mit dem Stamm „sauber“, das negativ ist. Kennen Sie es?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

1. Ihre Autos tanken statt Diesel aus Müll erzeugtes Gas 2. c 3. Säuberung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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