Die Grenze im Blick

Erstmalig seit 1995 wurde im September angesichts der hohen Flüchtlingszahlen die deutsch-österreichische Grenze wieder kontrolliert. Damit endete für EU-Bürger eine alltägliche Selbstverständlichkeit: 20 Jahre lang hatten alle Grenzen offen gestanden – an sieben Stellen Deutschlands die zwischen drei Ländern. Eine davon prägt das Leben Aachens, der westlichsten deutschen Großstadt.

Wo ist die Grenze? Der Drei­länderpunkt bei Aachen. / Ahoerstemeier

Von Lucia Geis

Belgien und die Niederlande erreicht man von der alten Kaiserstadt Aachen zu Fuß. Die Stadt beruft sich stolz auf Kaiser Karl den Großen. Er habe sich im 8. Jahrhundert von seiner dortigen Lieblingsresidenz aus, in der er im Jahre 800 die Kaiserwürde erhielt, um die europäische Einigung verdient gemacht*. Deshalb verleiht die Stadt seit 1950 den Internationalen Karlspreis zu Aachen an Personen und Institutionen, die in seinem Geist handeln. Aachen gilt heute als weltoffene Stadt mit internationalem Flair*. Jeder hier kennt ihren niederländischen wie den französischen Namen, da an den westlichen Einfallstraßen* „Aken“ und an den südlichen „Aix-La-Chapelle“ steht.

Vom Philosophen Ludwig Wittgenstein stammt der vielzitierte Satz „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. Aber Wittgenstein meinte damit auch, das Erkennen einer Grenze bedeute bereits ihr Überschreiten, öffne also die Welt. In Aachen aufgewachsen machte ich selbst diese Erfahrung.

Vor Schengen

Wie allen Kindern wurden mir von Eltern und Lehrern Grenzen gesetzt, die es zu akzeptieren* galt. Zu den Glücksmomenten gehörten aber andere Geschichten, wie die der Aachener Großtante: Sie erzählte davon, im sieben Kilometer entfernten Moresnet in die Schule gegangen zu sein. Das klang seltsam, lag das Dorf doch in Belgien, also hinter der Grenze. Aber eben erst seit dem Versailler Vertrag, von dem ich noch nichts wusste. Die Grenze geriet für mich dennoch ins Wanken*. Ähnliches geschah am Dreiländerpunkt, wo drei Grenzen zwar real aufeinandertreffen, aber gleichzeitig irreal erscheinen. Von diesem 322 Meter hoch gelegenen Punkt mit seinem Aussichtsturm, zu dem man nach einem Spaziergang durch den Aachener Wald gelangt, blickt man auf Wiesen und Hecken*, die in Deutschland, Belgien und den Niederlanden gleich aussehen – den bis 1995 irgendwo weiter unten liegenden bewachten Grenzen zum Trotz. Wollte man sie zuvor passieren, durften selbst die Kinderpässe nicht vergessen werden. Die Kontrollen verursachten besonders am Sonntag lange Autoschlangen in die Niederlande, weil dort anders als in Deutschland die Geschäfte geöffnet waren. Richtung Belgien stauten sich* die Autos wegen zum Schmuggel* verführender Benzin-, Kaffee- und Tabakpreise immer. Schon während der Wartezeit kündigte sich das kribbelnde* Glück der Entdeckung des Fremden an*. In der niederländischen Kleinstadt Vaals verblüfften* die wie frisch geputzt wirkenden Häuser aus Backstein, die Fenster ohne Gardinen, überall flitzende* Fahrräder, und die Sprache empfand ich als genauso lustig wie die Menschen. Das Unglaublichste aber war ein Geschäft: Zwischen 100 Sorten Lakritz tat sich das Paradies auf*.

Im belgischen Kelmis wirkte dagegen alles ein bisschen chaotischer und ärmlicher als zu Hause, die älteren Damen aber warfen sich am Sonntag in Schale*. Von der in jedem Ort anderen Sprache verstand ich kein Wort, nicht einmal vom Dialekt der deutschsprachigen Minderheit im belgischen Eupen. Alte französische Autos, die ich nur aus Filmen kannte, parkten auf Höfen zwischen Gerümpel*, und über den Dörfern hing der Geruch von Pommes frites (in Belgien „Fritten“). Erst später offenbarte sich mir der Charme dieser Gegend, wozu auch beitrug, dass der Kaffee wie in Frankreich schmeckt, die belgische Küche der französischen in nichts nachsteht und im etwas entfernteren Lüttich (Liége) überall französische Chansons zu hören sind.

Seit Schengen

1985 beschlossen Frankreich, Deutschland, Belgien, die Niederlande und Luxemburg im Schengener Abkommen den schrittweisen Abbau der Kontrollen. Zehn Jahre später wurde es in Kraft gesetzt. Eine Karawane Aachener Studenten zog nun über die Grenze, denn in der Universitätsstadt herrschte Wohnungsnot, in Vaals dagegen standen schöne Wohnungen, in den belgischen Dörfern billige Bauernhäuser leer. Die Zurückgebliebenen entdeckten die Dreiländertour: Mit dem Fahrrad über den Berg durch den Wald nach Belgien, um – seit Schengen angstfrei – Tabak, Kaffee und Schinken zu kaufen, dann bergab durch die Wiesen nach Vaals, denn dort gab es Erdnussbutter (und Lakritz) und das Gras duftete wunderbar.

Unangenehm war nur eins: Kaum ein Aachener spricht Niederländisch, jeder Vaalser jedoch Deutsch. Die Deutschen plapperten also wie selbstverständlich in ihrer Muttersprache drauflos* und mancher alte Niederländer zuckte ein wenig zusammen, fühlte er sich doch an die deutsche Besetzung erinnert.

Am Ende des Jahrhunderts war politisch gewollt, auch die Infrastruktur der Grenzsicherung verschwinden zu lassen. Die Kontrollhäuschen in ihrer typischen Nachkriegsarchitektur wurden abgerissen, die breiten Standstreifen, auf denen sich früher Autos und Lkw stauten, begrünt. Am ehemaligen deutsch-belgischen Grenzübergang „Köpfchen“ gründete sich im Jahr 2002 dann jedoch die Bürgerinitiative „KuKuK“, die um den Erhalt der alten Grenzstation kämpfte, diese sanierte und mit Kultur belebte. Ihr Ziel ist ein „grenzüberschreitendes Miteinander mit Respekt für die Vergangenheit und Offenheit für die Zukunft“. Jetzt symbolisiert dort ein roter Teppich die europäische Verbindung.

Teil der alltäglichen Realität ist heute, dass Aachener zum Konzert nach Lüttich fahren, immer häufiger im niederländischen Maastricht studieren und die Niederländer von Deutschlands schönstem Weihnachtsmarkt in Aachen unbegrenzte Mengen Printen* nach Hause mitnehmen. Dennoch ist die Welt diesseits und jenseits der Grenze nicht gleich – zum Glück schmecken die Fritten weiterhin fremd und die alten Belgierinnen kleiden sich sonntags schön wie eh und je*. Und Kinder erleben noch immer – heute ohne Kontrollen vor Vaals – das Glück der Grenzüberschreitung spätestens, wenn sich ihnen im Lakritzgeschäft die andere Welt gleich vor der Haustür öffnet, obwohl die Eltern Grenzen setzen.

 

 

 

 

*Lesehilfe

sich verdient machen: Gutes tun
das Flair: stimmungsvolle Atmosphäre
die Einfallstraße: in eine Stadt führende Straße
akzeptieren: einverstanden sein
wanken: aus dem Gleichgewicht kommen
die Hecke: in langen Reihen gepflanztes strauchähnliches Gewächs
sich stauen: zum Stillstand kommen, weil es ein Hindernis oder zu wenig Platz gibt
der Schmuggel: illegale Warenausfuhr
kribbelnd: (körperlich spürbar) aufgeregt
ankündigen: im Voraus bekannt werden
verblüffen: überraschen
flitzen: sich schnell bewegen
sich auftun: sich öffnen, offenbaren
sich in Schale werfen: sich (übertrieben) schick machen
das Gerümpel: Durcheinander von nicht mehr gebrauchten Dingen
drauflosplappern: (umgangssprachlich) ohne Nachdenken sprechen
die Printe: weltberühmtes Aachener (Weihnachts-)Gebäck
eh und je: schon immer

 

 

 

 Aufgaben
1. Wie viele Dreiländerecke mit einem Nicht-EU-Land hat Deutschland?
a) Polen, Tschechien; b) Tschechien, Österreich; c) Österreich, Schweiz; d) Schweiz, Frankreich; e) Frankreich, Luxemburg; f) Luxemburg, Belgien; g) Belgien, Niederlande

2. Was ist nach 2002 in die deutsch-belgische Grenzstation „Köpfchen“ eingezogen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 

1. Zwei 2. Kulturzentrum, das an die Grenze erinnert und sich für ein Miteinander einsetzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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