Ein Meer von Nobelpreisträgern

München hat zwei Biergärten mit über 7000 Plätzen – den Königlichen Hirschgarten und den Chinesischen Turm, Leipzig zwei berühmte Kirchen – Thomaskirche und Nikolaikirche, Berlin zwei Flughäfen – Tegel und Schönefeld. Lübeck aber hat zwei Literaturnobelpreisträger – Thomas Mann und Günter Grass.

Lübeck – Freier Blick für freie Geister. / Jürgen Howaldt / Wikipedia

Von Lucia Geis

Lübeck ist heute eine 214 000-Einwohner-Stadt an der Ostseeküste, bekannt für ihr Marzipan und auch für ihre Altstadt als UNESCO-Weltkulturerbe. Die Handelsstadt, um 800 von Slawen unter dem Namen Liubice gegründet, stieg  500 Jahre später im Russlandhandel auf* und entwickelte sich vor allem durch den Salz- und Pelzhandel mit Nowgorod zu einer der größten deutschen Städte.

Ob der ursprünglich weltoffene Geist der Stadt ein guter Nährboden* für gute Literatur ist, bleibt Spekulation*. Doch Tatsache ist: Hier verbrachte Thomas Mann von 1875 bis 1894 seine Kindheit und Jugend, Günter Grass von 1986 bis 2015 seine späten Jahre. In diesen Wochen erinnert die Stadt an beide. Rund um den 6. Juni feiert sie Mann anlässlich seines 140. Geburtstags mit zahlreichen Veranstaltungen, von Grass nahm sie am 10. Mai, vier Wochen nach dessen Tod, in einer Gedenkveranstaltung Abschied.

Immer wieder wurde Grass mit Thomas Mann verglichen, so auch vom Nobelpreiskomitee, das in seiner Begründung für die Preisvergabe an Günter Grass 1999 feststellte: „Durch seine Macht über die deutsche Syntax und seine Bereitschaft, ihre labyrinthischen Feinheiten zu nutzen, erinnert er an Thomas Mann.“ Weitere Schnittpunkte zwischen beiden Literaturnobelpreisträgern sind zu entdecken.

Ostsee

Die Großeltern von Thomas Mann kauften 1784 ein standesgemäßes* Lübecker Bürgerhaus, das heute als Museum, Stiftung und Archiv dient. Schon seit den 1920er Jahren trägt es den Namen von Thomas Manns berühmtem ersten Roman „Buddenbrooks“ (nur die Nazis benannten es um, da sie Manns nicht gedenken wollten). Vorbesitzer des Hauses war über Generationen die Händlerfamilie Croll, allesamt zur See fahrende Kaufleute und aktiv im Handel mit Nowgorod. Im Roman „Buddenbrooks“, für den Mann 1929 den Nobelpreis erhielt, spielt die Ostsee eine wichtige Rolle: Hanno Buddenbrook, der letzte kränkelnde Spross* der Händlerfamilie, liebt die Ostsee und will nach einem glücklichen Sommerurlaub nicht in die strenge Welt seines Vaters und der Schule zurück. Das Meer bedeutet ihm Freiheit, aber es steht auch für den Untergang der bürgerlichen Familie.

Das Buddenbrookhaus eröffnet im Juni die Ausstellung „Erzähl mir Meer! Geschichten von der See“. Man zeigt neben zahlreichen Texten Thomas Manns zum Thema Meer auch historische Urlaubspostkarten, die er Bruder Heinrich schrieb.

Lübeck und die Ostsee wurden auch Günter Grass für 30 Jahre bis zu seinem Tod Lebensmittelpunkt. Die Ostsee war ihm immer zugleich Sehnsuchtsort* und der Raum, der die Verbindung zwischen seiner verlorenen Heimat Danzig, wo er zur Welt kam, und Nachkriegsdeutschland herstellte. Sein erster Roman „Die Blechtrommel“, Teil der „Danziger Trilogie“, machte ihn berühmt, weil er die Nachkriegsdeutschen mit Schuld und Verlust konfrontierte. Und schon in seinem frühen Text „Kleckerburg“ heißt es: „Wie macht die Ostsee? – Blubb, pfff, pschsch… Auf deutsch, auf polnisch: Blubb, pfff, pschsch…“. Diesen Text trug der Schauspieler Mario Adorf auf der Gedenkfeier für Günter Grass im Lübecker Theater vor. Aber auch in seiner späten Novelle „Im Krebsgang“ kommt Grass wieder auf Danzig und die Ostsee zurück. In einer Mischung aus Realität und Fiktion, aus Vergangenheit und Gegenwart geht es um das nationalsozialistische Schiff „Wilhelm Gustloff“, das voller Flüchtlinge* durch ein sowjetisches U-Boot* versenkt* wurde, und um die Reaktionen, die dieses Ereignis bei einem Rechtsradikalen der Gegenwart auslöst*.

Heimat

Beide Nobelpreisträger verloren aus politischen Gründen ihre Heimat und mischten sich als Intellektuelle in die Politik ein*. Thomas Mann galt als der Inbegriff* bürgerlicher Kultur. Er verteidigte im Ersten Weltkrieg die Monarchie und verachtete* die französische Republik ebenso wie ihre Literatur. Diese Haltung änderte er erst nach dem Ersten Weltkrieg, als er zum Verteidiger der Weimarer Republik wurde. Schon 1933, nach der Machtergreifung der Nazis, beschloss er während einer Reise in die Schweiz dort zu bleiben. Drei Jahre später wurden seine Bücher in Deutschland verboten. Nach dem Entzug* der deutschen Staatsbürgerschaft siedelte Mann 1938 in die USA über, wo er seine berühmten Radioansprachen „Deutsche Hörer!“ hielt, in denen er diese zum Widerstand aufrief. Die Wut der Deutschen über die Bombardierungen ihrer Städte am Ende des Kriegs kommentierte er harsch* mit „Alles muss bezahlt werden“.

Nachdem der amerikanische Kongress ihn als Verteidiger Stalins bezeichnet hatte, verließ er die USA 1952 und wählte die Schweiz zur Heimat, wo er 1955 starb. Deutschland war ihm nur noch Besuchsort, etwa drei Monate vor seinem Tod, als er in Lübeck die Ehrenbürgerwürde* entgegennahm*.

Günter Grass verlor nach dem Krieg seine Heimat Danzig und führte lange ein unstetes* Leben mit den Stationen Düsseldorf, Berlin, Paris, Kalkutta und schließlich Lübeck. Er setzte sich für die SPD wie für Kinder in Kalkutta ein*, kritisierte die deutsche Asylpolitik und wurde selber wegen eines israelkritischen Gedichts angegriffen*.

Seiner Heimat blieb Grass aber immer treu. Häufig besuchte er Danzig und unterstützte Willy Brandts Ostpolitik. 1993 wurde er Ehrenbürger der Stadt, die 2009 ein Günter-Grass-Museum eröffnete. Bei der Gedenkfeier zu seinem Tod sagte Pawel Adamowicz, der Stadtpräsident von Danzig, Grass habe „für unser gegenseitiges Verständnis mehr getan, als ganze Gruppierungen von Politikern auf beiden Seiten der Grenze. Schon dafür schulden ihm die zwei Völker – das in polnischer und das in deutscher Sprache denkende Volk – ewige Dankbarkeit.“

Vor zehn Jahren erschien auf Deutsch der Roman „Castorp“ des polnischen Autors Pawel Huelle. Darin schickt der Autor Manns literarische Hauptfigur Hans Castorp aus dem Roman „Der Zauberberg“ nach Danzig, wo er ihn seine Studienjahre verbringen lässt. Mit dieser fiktiven Geschichte schlägt Huelle erzählend den Bogen* zwischen Mann und Grass, zwischen Lübeck und Danzig, zwischen Deutschland und Polen, verbunden durch die Ostsee als einem gemeinsamen, aber in seiner Geschichte oft schmerzlich zerrissenen Kulturraum.

 

 

 

Lesehilfe

aufsteigen: erfolgreich werden
der Nährboden: Basis
die Spekulation: Vermutung
standesgemäß: passend für die soziale Oberschicht
der Spross: Nachkomme, Sohn
der Sehnsuchtsort: Ort, an dem man sein möchte
der Flüchtling: Person, die ihre Heimat verlassen muss
das U-Boot: Schiff unter Wasser
versenken: etwas zerstören, sodass es untergeht
auslösen: zu etwas führen
sich einmischen: sich mit Worten beteiligen
der Inbegriff: Idealbild
verachten: sehr schlecht finden
der Entzug: Wegnahme
harsch: stark und unfreundlich
die Ehrenbürgerwürde: Auszeichnung für besondere Leistung
entgegennehmen: empfangen
unstet: unruhig
sich einsetzen: sich engagieren
angreifen: heftig kritisieren
den Bogen schlagen: eine Verbindung herstellen

 

 

Aufgaben

1. Aus welchen Anlässen ehrt die Stadt Lübeck in diesem Jahr Mann und Grass?

2. Beschreiben Sie kurz die politische Entwicklung Manns.

3. Warum lobt Danzigs Stadtpräsident Grass?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 

1. 140. Geburtstag Manns und Tod von Grass. 2. Vom Freund der Monarchie zum Kämpfer gegen den Nationalsozialismus. 3. Grass kümmerte sich um die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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