Freiheit, Gleichheit, Wanderschuhe

Dem Ausländer, der im Winter Deutschland besucht, fällt schnell auf, dass die Städter sich kleiden, als brächen sie zu einer Wanderung in die Alpen oder zumindest in Feld, Wald und Wiese auf*. Neben Rucksäcken tragen sie Wanderschuhe und dicke Jacken mit Kapuzen*. In Zeiten der Erderwärmung ist das schwer zu verstehen.

Von Lucia Geis

In seinem Roman «Morphin», der im gerade von der Deutschen Wehrmacht besetzten Warschau spielt, lässt der polnische Autor Szczepan Twardoch den Protagonisten Konstanty, einen immer gut gekleideten Dandy, eine ihn verwirrende Beobachtung machen. Die Bewohner gehen plötzlich trotz frühlingshafter Temperaturen in Wanderstiefeln, Skimützen, Anoraks* und mit Rucksäcken durch die Stadt, während er selber weiterhin in Anzügen und auf Ledersohlen über die Trümmer* und Pfützen springt. Als seine Leidensgenossen* schließlich auch ein Café in dieser Montur* betreten, fragt er den Kellner, ob er den Grund kenne. Dieser spricht von «Besatzungsmode» und erklärt, dass «alle schon auf dem Sprung* nach Ungarn» seien. Kurz zuvor hatte der Protagonist gesehen, wie jemand die Bürgersteige flickte*.

Diese beiden Szenen sind ein guter Ansatzpunkt, um das Phänomen der Vorliebe für nicht-städtische Kleidung zu verstehen, das heutige deutsche Großstädte prägt*.

Einst unterschied sich die Landbevölkerung – sei sie adlig oder bäuerlich – von der Stadtgesellschaft auch äußerlich. Auf dem Land war es sinnvoll, vermatschten* Wegen mit Stiefeln zu trotzen* und wetterresistente Umhänge* und Kopfbedeckungen zu tragen. Dagegen hatte das aufstrebende* Bürgertum dem Städter den asphaltierten Bürgersteig beschert*, auf dem sich ebenso unbehelligt* von Schmutz wie stolz auf den feinen Unterschied flanieren ließ. Die vom Philosophen Walter Benjamin beschriebene Passagen-Architektur machte den Bürger des 19. Jahrhunderts sogar von Wind, Regen und Kälte unabhängig. Seinem Ankünder* der Moderne – dem Flaneur – wurde die Straße zur Wohnung, und wer würde durch seine Wohnung mit Stiefeln und Mütze laufen? Kein Zufall ist es somit, dass in Szczepan Twardochs Roman nach der barbarischen, in jeder Hinsicht antibürgerlichen Verletzung und Unterjochung* einer freien Stadt die Bürgersteige als Symbole bürgerlicher Freiheit zu allererst repariert werden.

Und noch etwas kann man bei Benjamin lernen: Der Flaneur erahnte* das Verschwinden der Grenzen – die der Räume, die der Zeiten und die der sozialen Distinktion*. Die späteren Glasfassaden der Bauhaus-Architektur machen die Trennung zwischen Innen und Außen unsichtbar, das von Benjamin erwähnte sowjetische Projekt der Abschaffung des Sonntags löst die Zeiträume auf (ganz zu schweigen von den heutigen flexibilisierten Arbeitszeiten und verkaufsoffenen Sonntagen) und in den Kinos der Großstädte tummeln* sich anders als in den Salons des frühen 19. Jahrhunderts Reich und Arm.

Die westdeutsche Nachkriegszeit und die Schaffung der sozialen Marktwirtschaft gingen einher* mit der Abschaffung des Proletariats, einer Ausdehnung* der Mittelschicht und einer Skepsis gegenüber Eliten. Manche sprechen von einer Sozialdemokratisierung der Gesellschaft. Diese Entwicklung implizierte* die (scheinbare) Aufhebung* sozialer Grenzen. Massenproduktion, steigende Löhne und die Bildungsoffensive ermöglichten fortan* jedem die Teilhabe am Konsum. Kleidung sollte nicht länger als Abgrenzung und Kennzeichnung des sozialen Status dienen und verlor schließlich diese Aufgabe. Was blieb, war ihre pragmatische Funktion. Und als es den Deutschen immer besser ging und sie weniger arbeiten mussten, trat in allen Lebenssituationen die Kleidung als sogenannte «Freizeitkleidung» in den Mittelpunkt: Pullover, Jacke, Jeans, Sportschuhe. Warm, bequem, pflegeleicht, denn waschbar sollte sie sein, hatte doch inzwischen jeder eine Waschmaschine. Da Deutschland aber bis heute ein auf Wachstum und technologischen Fortschritt ausgerichtetes* Land ist, müssen ständig noch wärmere, bequemere und pflegeleichtere Materialien entwickelt werden. Diese Investition rentiert* sich jedoch nur, wenn die Produkte neben Himalaya-Bergsteigern auch andere kaufen. So gilt es die Städter davon zu überzeugen, dass der Weg zur U-Bahn komfortabler ist, macht man ihn in einer Hardshell- / Thermo- / Daunenjacke und in GORE-TEX-Wanderschuhen, die ohne jegliche Pflege wasserdicht sind. Der Gesundheitswahn* besorgte schließlich den Rest: Hohe Absätze erzeugen Rückenprobleme, Rucksäcke dagegen nicht. Diese Faktoren bestimmen die oberflächlich wechselnden Moden.

Auch der Kellner in Twardochs Roman hatte von Mode gesprochen, sarkastisch von «Besatzungsmode» und für diese die naheliegende Erklärung der bevorstehenden Flucht gefunden. Diesen Gedanken auf den modernen fortschrittlichen deutschen Großstädter übertragend, könnte man fragen, wovor dieser flieht. Könnten ihm die Wanderschuhe so etwas wie Siebenmeilenstiefel* sein, die ihn jeder Zeit befähigen, den sich hinter ihm auftürmenden* Trümmern seines verschwenderischen* Lebens zu entfliehen, mit großen Schritten aus dieser zunehmend bedrohlichen Welt der Moderne fortzukommen (von «fortschreiten»* kann in diesen Schuhen natürlich nicht die Rede sein)?

Und ein letzter Aspekt: Die in Deutschland ankommenden Geflüchteten mussten sich fragen lassen, warum sie so gut gekleidet seien, sprich, warum sich ihre Kleidung nicht von der der Einheimischen unterscheide. Sie hatten damit in den Augen einiger eine Regel verletzt, die besagt, dass Flüchtlinge nicht Brüder, sondern Ungleiche sind und somit als Fremde identifizierbar sein müssen. Dass sie die einzigen waren, die eine Wanderung hinter sich hatten, spielte dabei keine Rolle. Vielleicht hatten sie aber vor Augen geführt, wie absurd manches Vertraute ist.

 

 

 

*Lesehilfe
aufbrechen: losgehen, losfahren
die Kapuze: an Jacke / Mantel befestigte Kopfbedeckung
der Anorak: kurze, wetterfeste Jacke
die Trümmer (pl.): Reste von zerstörten Gebäuden
der Leidensgenosse: jemand, der das gleiche Leid erlebt
die Montur: die Kleidung
auf dem Sprung sein: kurz vor dem Aufbruch sein
flicken: Löcher zumachen
prägen: bestimmen, charakterisieren
vermatscht: voll Matsch (Schmutz)
trotzen: gegen etwas kämpfen; stärker sein als …
der Umhang: Kleidungsstück, das man sich gegen Kälte, Wind, Regen umhängt
aufstreben: auf der sozialen Leiter aufsteigen
bescheren: glücklicherweise etwas von jemandem bekommen
unbehelligt: ungestört
der Ankünder: jemand, der etwas Zukünftiges formuliert
die Unterjochung: bedingungs­lose Unterdrückung
erahnen: etwas Zukünftiges erkennen
die Distinktion: Unterscheidung, Abgrenzung
sich tummeln: in großer Zahl an einem Ort sein
einhergehen: gleichzeitig passieren
die Ausdehnung: Anwachsen, Vergrößerung
implizieren: beinhalten
die Aufhebung: Annullierung, Abschaffung
fortan: zukünftig
ausgerichtet: orientiert
sich rentieren: sich lohnen
der Wahn: krankhafte Vorstellung
der Siebenmeilenstiefel: (aus einem Grimm-Märchen): Stiefel, mit dem man ganz schnell weiter kommt
auftürmend: hoch wie ein Turm werdend
verschwenderisch: ohne Sinn konsumierend
fortschreiten: elegant weitergehen

 

 

 Aufgaben
1. Warum sagt das Wort «Bürgersteig» mehr als das Wort «Gehweg»?

2. Im Text gibt es ein Spiel mit der Ambivalenz des Wortes «fort» («Fortschritt», «fortkommen», «fortan»). Welche beiden Bedeutungen hat dieses Wort?

3. Warum werden im Text Wanderschuhe mit Siebenmeilenstiefeln verglichen?

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 

1. Es sagt, wann und durch / für wen Bürgersteige entstanden sind. 2. Weiter / weg 3. Beide ermöglichen schnelles, bequemes Fortkommen.

 

 

 

 

 

 

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