Mütter, Märkte, Musterknaben*

Am Vatertag treffen sich Männer, machen einen Ausflug und trinken schon vormittags Bier. Am Internationalen Tag des Kindes geht es um Kinderrechte und darum, dass sie allzu oft missachtet werden. Und am Muttertag? Einst bekamen Mütter ein Ehrenkreuz, heute dürfen sie sich über Blumen freuen. Über den Muttertag freuen sich in Deutschland vor allem die Blumenhändler

„Mutter mit totem Sohn“ (1937–1939) von Käthe Kollwitz; Neue Wache Berlin. / Harabanar

Von Lucia Geis

Seit ein paar Wochen ist im Radio der Song „Oft gefragt“ zu hören, den man zuerst als nostalgischen Lebensrückblick eines älteren Liedermachers abtut*. Beim Googeln aber stößt man auf drei Kölner Jungs, die kürzlich Abitur gemacht haben und über die Mutter singen, der sie dankbar sind, hat sie sie doch immer abgeholt und angezogen. So weit, so langweilig. Aber im Refrain ertönen dann die Zeilen „Zu Hause bist immer nur du… Ich hab keine Heimat, ich hab nur dich.“ Da fragt man sich, was diese verehrten Mütter den ganzen Tag machen und ihren Musterknaben mit auf den Weg gegeben* haben. Vielleicht handelt es sich ja um modische Helikopter-Mütter*. In Liedern anderer Zeiten waren ähnliche Zeilen immer der Geliebten vorbehalten* – sowohl in Schuberts „Winterreise“ als auch in „Ich denk an dich“ des Punksängers Rio Reiser.

Natürlich spricht nichts dagegen, die Mutter zu ehren, letztlich ist das eine Selbstverständlichkeit. Schon im antiken Griechenland wurde Rhea als Göttin von Fruchtbarkeit und Mutterschaft geschätzt.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich die US-amerikanische Frauenbewegung für einen Muttertag ein. Sie kämpfte für Frauenmeetings und dafür, dass Söhne nicht mehr in den Krieg ziehen müssten. In Europa forderte die Frauenbewegung zur gleichen Zeit bessere Bildungschancen für Mädchen. 1914 wurde in den USA der Muttertag zum nationalen Feiertag. Anna Marie Jarvis, die Tochter der Vorkämpferin, bereute* später jedoch wegen der zunehmenden Kommerzialisierung diesen Einsatz. Heute ist der Muttertag in den USA nach Weihnachten der kommerziell erfolgreichste Tag. Und auch in Deutschland geht es ums Kaufen. 1923 klebte der Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber Plakate mit dem Slogan „Ehret die Mutter“, womit der Tag seinen hiesigen Siegeszug antrat*: Ungefähr 130 Millionen Euro lassen Väter und Kinder sich heute die Blumen kosten.

Die Nationalsozialisten instrumentalisierten den Tag für ihre ideologischen Ziele, indem sie 1934 den „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ einführten. Dessen Ziel stand dem Ursprungsgedanken der amerikanischen Frauenbewegung diametral entgegen*, denn Mütter sollten nun als Heldinnen des Volkes geehrt werden, wenn sie ausreichend für „arischen Nachwuchs“ sorgten und so ihren Beitrag zur Produktion (von Kriegsmaterial) leisteten. Am 21. Mai 1939 wurde erstmals das „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“ verliehen*. Die deutsche Künstlerin Käthe Kollwitz, die mit ihren Holzschnitten* und Skulpturen auf das Leid der Mütter in Kriegszeiten aufmerksam machte (ihr Sohn war im Ersten Weltkrieg getötet worden), erhielt von den Nationalsozialisten dagegen Berufsverbot.

Die DDR ersetzte den Tag durch den Internationalen Frauentag. Ob der Muttertag in der BRD allerdings so unpolitisch ist wie es auf den ersten Blick scheinen mag, darf bezweifelt werden. Denn die Rolle der Mutter erlebt eine Renaissance. 2014 verabschiedete* die Große Koalition die sogenannte „Mütterrente“. Sie regelt die Anerkennung von Erziehungszeiten für die Rente neu – was freilich auch für erziehende Väter gilt, aber eben „Mütterrente“ heißt. Und während ungefähr 90 Prozent der Mütter Elterngeld* für ein Jahr beziehen, sind es bei den Männern weniger als 10 Prozent. Unter Jugendlichen verstärkt sich seit Jahren die Tendenz, das Elternhaus spät zu verlassen, und besonders junge Männer genießen das „Hotel Mama“, denn für frische Wäsche, ein sauberes Bad und einen ständig vollen Kühlschrank sorgt die Mutter doch am besten. Kein Wunder also, dass in den Shell-Jugendstudien von 2010 und 2015 für neun von zehn Jugendlichen ein gutes Familienleben den wichtigsten Wert darstellt und Jugendliche sich laut der gerade veröffentlichten Sinus-Studie den Erwachsenen anpassen, wenn es ihnen Sicherheit verspricht. Da bringt man der Mutter, die immer zu Hause und für einen da ist, gerne mal ein paar Blümchen vorbei, bevor sie den ersten Spargel* der Saison für das Mittagessen schält.

 

 

 

 

*Lesehilfe

der Musterknabe: perfekter (aber langweiliger) Sohn
abtun: als negativ betrachten, ignorieren
mit auf den Weg geben: Werte vermitteln
die Helikopter-Mutter: Mutter, die ihr Kind in jeder Lebenssituation kontrolliert
vorbehalten: nur für den Genannten bestimmt
bereuen: bedauern
den Siegeszug antreten: erfolgreich werden
entgegenstehen: das Gegenteil bedeuten
verleihen: als Belohnung geben
der Holzschnitt: Drucktechnik mit einer Holzvorlage
verabschieden: (hier): über ein Gesetz abstimmen
das Elterngeld: finanzielle staatliche Unterstützung für junge Eltern (die sich am Einkommen orientiert)
der Spargel: weißes oder grünes langes dünnes Frühjahrsgemüse

Aufgaben

1. Warum bezeichnet der Text die Kölner Sänger als „Musterknaben“?
2. In zwei Phasen war der Muttertag eindeutig politisch. Wann?

 

 

 

Lösungen 

1. Weil sie die Mutter als wichtigste Person besingen. 2. Bei seiner amerikanischen Gründung und bei den Nazis.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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