Unheimliche Heimat

In Deutschland nimmt der Wald mit rund 32% einen geringeren Anteil an der Landesfläche ein als im EU-Durchschnitt. Dennoch pflegen die Deutschen ein besonders inniges* Verhältnis zu ihm. Grimms Märchen sind ohne ihn nicht denkbar. Er ist Ort kriegerischer Auseinandersetzungen wie sonntäglicher Vergnügungen und sein Wohlergehen* Anliegen* deutscher Politik. Geld lässt sich auch mit ihm verdienen.

Vogelsang

Unheimlich schön: Nationalpark Eifel und ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang. / Rrhilber

Von Lucia Geis

Schwarzwald, Thüringer Wald, Bayrischer Wald – ganze Regionen Deutschlands sind nach den sie prägenden Waldgebieten benannt. Der Wald zählt zu dem, was Deutsche für typisch deutsch halten. Ihn möchten sie nicht missen und ihn identifizieren sie mit Heimat. Kinder lernen Lieder wie „Kuckuck, Kuckuck, ruft‘s aus dem Wald“. Sie erschaudern*, wenn Hänsel und Gretel sich im Wald verirren oder Rotkäppchen dem Wolf am Wegesrand begegnet.

Der Wald ist dann der Ort der Dunkelheit, des Unheimlichen und des Verbrechens, aus dem kommt, was Angst macht. Grund zur kindlichen Freude ist es dagegen, wenn Schneewittchen der bösen Stiefmutter entflieht und im Wald von den sieben Zwergen liebevoll aufgenommen wird. Da wird er zum Zufluchtsort, in dem man sich vor dem Bösen verstecken kann. In der Literatur des 19. Jahrhunderts, etwa bei Clemens Brentano, ist der Wald ein allgegenwärtiger* Ort des Trostes, der Melancholie und der Konfrontation mit dem Ich. Gustav Mahler hat zahlreiche dieser Texte vertont.

Krieg und Frieden

Nicht zuletzt ist der Wald ein Ort des Krieges. Die Schlacht im Hürtgenwald in der Eifel nördlich von Aachen zwischen Oktober 1944 und Februar 1945 war eine der schwersten des Zweiten Weltkriegs. Am Ende gab es 12 000 Gefallene auf deutscher und laut Schätzungen bis zu 55 000 auf amerikanischer Seite. Zwei spätere Literaturnobelpreisträger könnten sich auf dem Schlachtfeld begegnet sein: der amerikanische Offizier Ernest Hemingway und der deutsche Soldat Heinrich Böll. Nachkriegskinder suchten zwischen den zerschossenen Baumstümpfen* nach zurückgelassenem Kriegsgerät. Bis heute ist diese Schlacht ein Trauma der dortigen Bevölkerung. Die Amerikaner nennen sie ihre erste „Waldkampferfahrung“ (die zweite machten sie in Vietnam). Der heutige Hürtgenwald ist jung, denn auf den Granatsplittern* wuchs lange nichts.

Wer die Siebziger Jahre in Deutschland erlebt hat, ist an zahllosen Sonntagen zu allen Jahreszeiten über Waldlehrpfade* gestolpert*, um Farne* und Pilze zu entdecken, Jahresringe an gefällten Bäumen zu zählen, Bucheckern* zu knabbern*, Kastanien zum Basteln oder für die Tiere im Zoo zu sammeln und natürlich Eibe* von Buche* und Ahorn* von Eiche* unterscheiden zu lernen. Zwischendurch erfuhr man, wie schmerzhaft ein Ameisenbiss* sein kann.

All diese ambivalenten Gefühle zwischen Angst und Hoffnung, Trauer und Sehnsucht, Leid und Glück prägen das Verhältnis zum Wald und sind Teil der kulturellen DNA*. Von Sentimentalität sind sie natürlich auch begleitet. Die Firma „Berlintapete“ bietet dem Waldliebhaber 25 verschiedene Fototapeten mit Buchenwäldern an. Denn sie sind der Deutschen liebstes Kind, auch wenn inzwischen Fichten* und Kiefern* die Mehrheit bilden. Dafür gibt es ganz unromantische Gründe, wachsen doch diese Gehölze* wesentlich schneller als Laubbäume: Buchen und Eichen können erst nach 120 bis 180 Jahren verwertet werden, Kiefern und Fichten bereits nach 80 Jahren. Wer möglichst schnell Profit machen will, pflanzt also Nadelbäume. 2014 setzte die Holzwirtschaft 118 Milliarden Euro um und seit 1999 wuchs die Holzernte um 50% auf zuletzt 56 Millionen Kubikmeter an.

In den Achtziger Jahren hatte man dagegen das Sterben des Waldes, vor allem von Eichen und Buchen befürchtet, reagieren diese doch besonders empfindlich auf hohe Schwefel- und Stickstoffdioxide*. Da sie außerdem wie kein anderer Baum den deutschen Wald repräsentieren, wurde das Problem zu einem der zentralen politischen Themen der Zeit. Es galt als symptomatisch für eine komplexe Krisensituation. Die Debatte beflügelte* den Aufstieg der jungen Partei „Die Grünen“. 1985 gab die Bundespost die Briefmarke „Rettet den Wald“ heraus. Den Begriff „Waldsterben“, der sowohl für das Phänomen wie die damit verbundene Angst geprägt wurde, übernahmen sogar die Franzosen. Heute spricht niemand mehr davon.

Geld und Wölfe

Aufgrund höherer Umweltstandards geht es den Wäldern inzwischen besser. Dennoch sollte niemand glauben, dass der deutsche Wald einfach Natur ist. Wie alles in einem dicht besiedelten Industrieland ist er Teil der Ökonomie, auch wenn er der Erholung dient. Das in den letzten Jahren zum Modetrend gewordene Wandern durch die heimischen Wälder und die Errichtung von Nationalparks, in denen Dreiviertel der Fläche ohne menschliche Nutzung der Natur überlassen werden sollen, ist für strukturschwache Regionen wie den Thüringer Wald oder die Eifel zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden. So verkündete Anfang Mai Michael Lammertz, der Sprecher des Nationalparks Eifel (wo sich zwischen 1936 und 1939 eine Elite-Schule der Nazis befand), der Bruttoumsatz durch Nationalparktouristen sei von 8 Millionen im Jahr 2007 auf jetzt 30 Millionen Euro gestiegen.

Unterstützt werden die Nationalparks aber auch von Umweltverbänden, die seit langem die Diversität* der heimischen Laubwälder in kämpferischer Prosa beschwören*. Der Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU) etwa spricht von einem „’Grundrecht’ auf intakte Wälder“, in denen „elementare Naturerfahrungen, die ganz wesentlich zur Lebensqualität in Deutschland beitragen und seit Jahrhunderten ihren Widerhall* in Kunst und Kultur finden“, gemacht werden können. Angst macht das Zurück-zur-Natur den Menschen allerdings insofern, als dass Wölfe wieder heimisch werden.

 

 

 

 *Lesehilfe

innig: herzlich, tief emotional
das Wohlergehen: Zustand, in dem es jemandem oder etwas gut geht
das Anliegen: Wunsch
erschaudern: sich vor Angst, Schreck schütteln
allgegenwärtig: immer da
der Baumstumpf: Rest von einem zerstörten Baum
der Granatsplitter: Metallstückchen von einer explodierten Granate
der Waldlehrpfad: Waldweg, an dem es viele Erklärungen zu Flora und Fauna gibt
stolpern: beim Gehen wegen eines Hindernisses fast fallen
der Farn: Waldpflanze mit fächerartigen Blättern
die Buchecker: Frucht der Buche
knabbern: etwas kleines Hartes essen
die Eibe, die (Rot-)Buche, der Ahorn, die Eiche: Laubbäume
der Ameisenbiss: Verletzung durch den Biss einer Ameise (Waldinsekt)
DNA: (umgangssprachlich) Erbanlage
die Fichte, die Kiefer: Nadelbäume
das Gehölz: Pflanze mit holzigem Stamm
das Schwefel-, das Stickstoffdioxid: SO2/NO2; giftige Gase
beflügeln: Kraft geben die Diversität: Fachbegriff für Vielfalt
beschwören: eindringlich, mit Nachdruck bitten
der Widerhall: Echo, Resonanz

 Aufgaben

1. Welcher der folgenden Begriffe hat nichts mit Angst zu tun?
a) erschaudern, b) unheimlich, c) heimisch, d) Waldkampferfahrung

2. Formen Sie folgende Konstruktion in einen Relativsatz um:
Das in den letzten Jahren zum Modetrend gewordene Wandern durch die heimischen Wälder.

 

 

 

Lösungen

1. c. 2. Das Wandern durch die heimischen Wälder, das in den letzten Jahren zum Modetrend geworden ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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