Vogelfrei auf Hiddensee

Wie zwei ungleiche Schwestern liegen zwei Inseln vor den deutschen Küsten: Die eine in der Nordsee, die andere in der Ostsee, die eine – Sylt – von Reichen bevölkert und weltbekannt, die andere – Hiddensee – seit mehr als 100 Jahren ein Geheimtipp für Naturliebhaber und Intellektuelle.

Der Sanddorn, der Leuchtturm und dahinter: Dänemark. / Lucia Geis 

Von Lucia Geis

Hiddensee, das 19 Quadratkilometer kleine Eiland* zwischen Nordostdeutschland und Süddänemark, wurde nach dem Krieg Teil der DDR, aber seinen größten Pluspunkt konnten ihm auch die neuen Herrscher nicht nehmen: Mit jährlich bis zu 2000 Sonnenstunden genießt die Insel das schönste Wetter in Deutschland. So strömten die Urlauber weiter, und für die ungefähr 1000 Einheimischen veränderte sich der Alltag kaum. Ebenso wenig wie später nach der Wiedervereinigung. Man lebt bis heute hauptsächlich vom Tourismus. Daneben betreibt man Landwirtschaft und Fischfang. Die DDR bohrte ein paar Jahre erfolglos nach Öl, heute gibt es biologische und physikalische Forschung.

Schule der Langsamkeit

Der Hiddensee-Reisende hat zwei Möglichkeiten. Von der großen Nachbarinsel Rügen aus kann er das Wassertaxi wählen. Damit erreicht er die Insel zwar in 20 Minuten, aber er hat die schlechtere Wahl getroffen. Denn Eilige sollten erst gar nicht nach Hiddensee, wo die Zeit nicht existiert, aufbrechen. Allen anderen sei zur Einstimmung* ab der Hafenstadt Stralsund die Fähre* empfohlen. Von Möwen* begleitet sucht diese sich auf einer dreistündigen Reise zwischen Sandbänken* den Weg, bis sich im Westen ein schmaler hellbrauner Streifen aus dem Meer erhebt. Das ist die unbewohnte Südspitze der Insel. Menschen folgen erst später, an den Stränden und in den vier Orten: Zuerst Neuendorf, in der Mitte Vitte, schließlich Kloster sowie Grieben im Norden, wo die Insel nordwestlich mit einer Steilküste* senkrecht* und Richtung Osten sanft ins Meer abfällt.

Hat der Reisende die Abendfähre genommen und geht noch ein wenig taumelnd* vom Seegang* in Kloster an Land, empfangen ihn nur der Geruch von Salz und Fisch, die Dunkelheit und die Stille. Denn die meisten Straßenlaternen sind zum Schutz der Fauna ausgeschaltet und Privatautos verboten. Glücklich kann sich also schätzen, wer wenig zu tragen hat. Die Übrigen müssen sich einen Handkarren leihen. Größere Transporte übernehmen Kutschen, und tagsüber pendelt ein Inselbus zwischen Neuendorf und Grieben für alle, die nicht radfahren oder zu Fuß gehen. Nur der Inselarzt hat ein Auto, und einige landwirtschaftliche Fahrzeuge sind erlaubt. Im Land der Autobahnen bildet Hiddensee eine nahezu autofreie Oase der Langsamkeit.

Sehr anders sah es 1885 auch nicht aus, als Gerhart Hauptmann während einer Rügenreise die kleine Nachbarinsel für sich entdeckte. Der berühmte Theaterautor des deutschen Naturalismus beschrieb in seinen Stücken schonungslos* das großstädtische Elend der Arbeiter zu Beginn der Industrialisierung. Aber als Gegenwelt brauchte er die Ruhe des unberührten Hiddensees so sehr, dass er nach zahlreichen Aufenthalten 1929 in Kloster ein Haus kaufte. Vom Hafen 200 Meter über die noch heute unasphaltierten Straßen gehend kommt man an sein Haus, in dem jetzt ein Museum an ihn erinnert. In den 1920er und 30er Jahren, als in Berlin Verkehr und Nachtleben tobten*, schiffte sich die hauptstädtische Boheme in Stralsund ein*, um auf Hiddensee die Sommerfrische* zu verbringen, darunter Albert Einstein, der Autor Hans Fallada, der Maler Oskar Kruse. Doch auch die Diven Asta Nielsen, Stummfilmschauspielerin*, und Gret Palucca, Tänzerin und wie Hauptmann auf dem Friedhof in Kloster begraben, gehörten zu den Liebhabern der Insel.

Freiheit mit Schranken*

Die Nächte sind totenstill, ein Wecker, gar ein Handy wären fehl am Platz*. Das Getrappel* von Pferden, die frische Lebensmittel vom Festland auf der Insel verteilen, ist der Weckruf. Im Herbst kommt das Geschrei von Zugvögeln*, die feuchte Gebiete als Rastplatz* nutzen, hinzu. Zum Frühstück gibt es Sanddorn – als Marmelade, Saft und im Quark. Die DDR-Punksängerin Nina Hagen verewigte 1974 die schrill* orangefarbene Beerenfrucht in ihrer Version des Liedes „Du hast den Farbfilm vergessen“ über den heißersehnten* Inselurlaub eines jungen DDR-Liebespaares.

Wer die Sanddornpflanze sehen will, besteigt am besten gleich nach dem Frühstück den sogenannten Dornbusch nördlich von Kloster. Über Wiesen erreicht man die höchste Inselerhebung. Windschiefe* Kiefern, leuchtende Sanddornsträucher, ein Waldstück, dann das Wahrzeichen* der Insel – der Leuchtturm. Hier ist das Land zu Ende. Im Osten über Rügen erscheint die Sonne. Richtung Süden verschwindet die Insel wie die fünf Finger einer Hand im Meer, und auf den Fingerspitzen leben nur Vögel. Den Menschen ist der Zutritt zu diesen Naturschutzgebieten durch Holzschranken versperrt. Im Nordwesten taucht bei klarem Wetter die nur 52 Kilometer entfernte dänische Insel Mön auf.

Zu DDR-Zeiten war Hiddensee streng militärisch bewacht, denn viele riskierten von hier die Flucht übers Meer. Nach Recherchen des Autors Lutz Seiler, der 2014 für seinen Hiddensee-Roman „Kruso“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, kamen dabei seit dem Mauerbau 174 Menschen ums Leben. Gleichzeitig war die Insel gerade wegen der strengen Bewachung ein Paradies für Aussteiger*, in dem zahlreiche DDR-Künstler (Christoph Hein, Armin Müller-Stahl, Harry Kupfer) und Regimemüde versuchten, sich den alltäglichen Zwängen* des Systems zu entziehen*. Die Militär- und Stasipräsenz ließ die Machthaber glauben, sie hätten das Territorium unter Kontrolle. Und so verschlossen sie oft die Augen, wodurch innerhalb der gesetzten Grenzen ein anderswo unbekannter Freiraum entstand. Viele konnten als Saisonarbeiter im Tourismus Geld verdienen. Und nach Feierabend waren sie frei, vogelfrei*, denn wollten sie weg, nach Dänemark, erging es ihnen schlecht*.

Die meisten aber wollten einfach nur hin, nach Hiddensee. Ein Urlaub in einem der staatlichen Urlaubsheime galt als Lotteriegewinn. Höchstens alle vier Jahre bekamen See- und Sonnenhungrige eine Chance. Und das einzige, was den Auserwählten* die Freude nehmen konnte, war der vergessene Farbfilm. Denn dann war auf ihren Urlaubsfotos alles schwarz-weiß, wie so oft in der DDR. Und schwarz-weiß ist Hiddensee in Wirklichkeit nie, damals nicht und heute nicht und nicht einmal im Winter, wenn die Besucher zurück auf dem Festland wieder durch den Alltag eilen und die Inselbewohner die restlichen Sonnenstunden in Ruhe verbringen.

 

 

 

*Lesehilfe

das Eiland: poetisches Wort für Insel
die Einstimmung: geistig-seelische Vorbereitung
die Fähre: Schiff, das zwischen A und B pendelt
die Möwe: weißer Seevogel
die Sandbank: Sandberg im Wasser
die Steilküste: hoch aufragende Küste
senkrecht: im 90-Grad-Winkel
taumeln: nicht sicher gehen
der Seegang: ständige Wellen
schonungslos: hart
toben: wild bewegen
sich einschiffen: aufs Schiff gehen
die Sommerfrische: Sommerurlaub
der Stummfilm: Film ohne Sprache
die Schranke: Absperrung durch Holz- oder Metallbalken
fehl am Platz: unpassend
das Getrappel: Geräusch von laufenden Pferden
der Zugvogel: Vogel, der im Sommer im Norden, im Winter im Süden lebt
der Rastplatz: Ort zum Ausruhen
schrill: extravagant
heißersehnt: stark gewünscht
windschief: vom Wind gebogen
das Wahrzeichen: Erkennungszeichen
der Aussteiger: Mensch, der die Gesellschaft verlässt
der Zwang: strenge Pflicht
sich entziehen: keine Verantwortung übernehmen
vogelfrei: frei, aber auch rechtlos wie ein Vogel
schlecht ergehen: Schlechtes erleben
der Auserwählte: jemand, der etwas Besonderes bekommt

 

 

 

Aufgaben

1. Welche der folgenden Nomen passen nicht zum Thema Meer?

der Seegang, der Aussteiger, die Möwe, der Leuchtturm, die Schranke, die Steilküste

2. Aus dem Text lassen sich 5 Komposita mit „Sanddorn“ erschließen. Welche?

3. Warum wurde Hiddensee vom DDR-Militär streng bewacht?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Lösungen

 

 1. Der Aussteiger, die Schranke. 2. Sanddornmarmelade, Sanddornsaft, Sanddornquark, Sanddornpflanze, Sanddornstrauch. 3. Man konnte ins nahe Dänemark fliehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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