Wo einst nur Mäuse pfiffen

Nach der Wiedervereinigung stieg die Arbeitslosigkeit im nordöstlichsten Bundesland Deutschlands auf über 20 Prozent, die Bevölkerung schrumpfte* dramatisch. Eine Chance sah man in Tourismus und Kultur, und so wurden bereits 1990 die Festspiele gegründet. Im Jubiläumsjahr präsentiert das nun drittgrößte Klassik-Festival in Deutschland vom 20. Juni bis zum 19. September 124 Veranstaltungen.

Probe im Stall von Gutshaus Wesselstorf. / Andreas Knoll

Von Lucia Geis

Schon im Namen Mecklenburg-Vorpommern (MV) steckt das Wesen der Region. Der erste Teil bedeutet „Große Burg“, der zweite „Land am Meer“. Den Landstrich an der Ostsee prägen* Wiesen, Felder und Wälder sowie über 2000 Burgen, Schlösser und Gutshäuser, alle Zeugnis der lange Zeit herrschenden adligen* Großgrundbesitzer.

Der mecklenburgische Adel entwickelte sich aus Rittern*, die im 12. Jahrhundert gegen Slawen kämpften und mit Land belohnt* wurden. Da später das norddeutsche Erbrecht* nur dem Erstgeborenen das Erbe zusprach, konnte dieser seinen Besitz im Laufe der Zeit vermehren, sodass die typischen großflächigen Ländereien entstanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg enteigneten* die sowjetischen Besatzer die adligen Besitzer und verteilten das Land an Kleinbauern, bevor die DDR ab 1952 die gesamte Landwirtschaft in gigantischen staatlichen Produktionsgenossenschaften kollektivierte. Deren Beschäftigte bewohnten jetzt die Herrenhäuser, ihre Festsäle dienten als Kindergärten, Bibliotheken und Lebensmittelgeschäfte. Von ihrer einstigen Pracht* blieb wenig übrig. Als die DDR 1990 der BRD beitrat, entschied man sich gegen die Rückgabe an die ehemaligen Besitzer.

Diese konnten das verlorene Familienerbe lediglich erwerben, wie es Heinrich Graf von Bassewitz tat. Er verkaufte seine Rinderherden in Uruguay und kaufte das Gutshaus Dalwitz, das 800 Jahre seinen Vorfahren* gehört hatte. Seit 1992 bewirtschaftet er es als ökologischen Betrieb mit Rindern, Pferden, 35 000 Hühnern, Kartoffel- und Gemüseanbau, Ferienwohnungen und Restaurant. Für die Mehrheit der Güter aber mussten die Kommunen neue Liebhaber finden. Die Frage, wozu man eine Immobilie kaufen sollte, durch deren Dach der Regen tropft und die ihre Schönheit hinter industrieproduzierten Zementplatten und unter PVC* versteckt, beantworteten sie allerdings nicht. Dennoch kamen Wagemutige*, die bis heute versuchen, den Gebäuden neues Leben einzuhauchen*.

In ihnen fanden die Festivalgründer offene, leicht zu überzeugende Partner. Mit ihrer Unterstützung konnte man sich am westdeutschen Nachbarland orientieren, wo das Schleswig-Holstein Musik Festival, bei dem Stars in Schlössern, Parks, Scheunen* und Ställen* auftreten, bereits seit 1986 Erfolge feierte. Diese Mischung müsste sich doch auch beim Aufbau-Ost bewähren*, zumal die Geschichte der Region außerdem einen unschlagbaren* Vorteil beschert* hatte: Denn östlich der ehemaligen innerdeutschen Grenze lag für 60 Millionen Deutsche fernes, unbekanntes Land, das den Charme des Abenteuerlichen ausstrahlte. Hier waren die Spielorte nicht saniert*, sie rochen nach Kühen statt Champagner, sie zeigten die Spuren der jüngsten Vergangenheit. Und tatsächlich machten sich neugierige Musikbegeisterte auf den Weg und erlebten, wie sich landwirtschaftliche Betriebe in Konzertsäle verwandelten. Im letzten Sommer zählten die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern  insgesamt 73 000 Besucher.

Obwohl weiterhin international bekannte Künstler das Publikum anlocken, fördern die Veranstalter zunehmend auch regionale: Die „Hochschule für Musik und Theater Rostock“ organisiert einen Sommercampus mit renommierten Dozenten, und im ganzen Land findet die Reihe „Musik aus MV“ statt. Außerdem erweitert sich das Spektrum der Genres und Räumlichkeiten: Nachdem in den letzten Jahren neben der Klassik auch Jazz, Techno und Unterhaltungsmusik in die herrschaftlichen Gemäuer* einzogen, öffnen 2015 erstmals Gebäude mit einer gänzlich anderen Tradition ihre Türen. In einer der riesigen, für den Schiffbau im Land am Meer errichteten Hallen tritt ein Percussions-Ensemble auf, das die dort produzierten Schiffspropeller in seine Musik einbezieht. Und Prora, das 4,5 Kilometer lange Ferienheim der Nationalsozialisten, wird zur Bühne für ein Klavierkonzert mit Paul Dessaus „Guernica“.

Wem die „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl 1990 den Ostdeutschen für ihre Zukunft versprochen hatte, immer noch fremd waren, der konnte das am Eröffnungswochenende auf einer Radtour ändern. Rund um die Landeshauptstadt Schwerin erwarteten ihn an zehn Stationen Klassik, Pop und zwischen Wiesen und Wäldern der Blecherbläserklang* eines Fahrradorchesters. Vielleicht pfiff hier auch noch eine Maus.

 

 

 

 Lesehilfe

schrumpfen: kleiner werden
prägen: typisch sein für
ad(e)lig: aristokratisch
der Ritter: mittelalterlicher Krieger aus höherem Stand
belohnen: jdm. etwas für gute Leistungen geben
das Erbrecht: Regelungen zur Weitergabe des Besitzes von Verstorbenen
enteignen: Wegnahme des Besitzes durch den Staat
die Pracht: luxuriöse Schönheit
der Vorfahre: Familienangehöriger aus einer früheren Generation
PVC: billiger Bodenbelag aus Kunststoff
der Wagemutige: jmd., der trotz hohem Risiko mutig ist
neues Leben einhauchen: wieder lebendig machen
die Scheune: Gebäude, in dem Heu und Stroh gespeichert wird
der Stall: Gebäude für Nutztiere
sich bewähren: sich als positiv erweisen
unschlagbar: einmalig gut
bescheren: geben, schenken
sanieren: substanziell renovieren und wiederherstellen
das Gemäuer: altes Gebäude aus Stein
der Blechbläserklang: Klang von Trompeten etc.

 

 

Aufgaben

1. Von Franz Kafka stammt die Erzählung „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“. Die Überschrift des Textes bezieht sich darauf. Was soll sie bedeuten?
a) Die Musik des Festivals ist so schrecklich wie das Pfeifen von Mäusen;
b) In den landwirtschaftlichen Gebäuden hörte man jahrhundertelang Mäuse, jetzt aber Musik;
c) Man komponierte Musik mit Mäusepfeifen.

2. Beim Fahrradkonzert konnte man „Blechbläserklang“ hören. Welches Instrument erzeugt wie die Trompete keinen „Streicherklang“?

a) die Bratsche; b) die Violine; c) der Kontrabass; d) die Harfe; e) das Cello.

3. Am 5. Juli standen Kammermusik und eine Sinfonie auf dem Programm. Worin besteht der Unterschied?

a) Kammermusik spielt man in einem kleinen Raum, eine Sinfonie in einem Saal;
b) Kammermusik spielt man mit wenigen Musikern, eine Sinfonie mit vielen;
c) Kammermusik ist ohne Klavier.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 

1. b 2. d 3. b

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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