Apfelbäumchen in den Städten

Inmitten deutscher Städte – sowohl in Berlin als auch in der Provinz – wachsen Obst und Salat. Bürger und städtische Verwaltungen haben die Vorteile des Gärtnerns und des regionalen Anbaus* entdeckt. Andernach in Rheinland-Pfalz nennt sich sogar „Essbare Stadt“, was sie berühmt machte.

Mobile Gärten für mobile Großstadtbewohner. / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Um die Jahrtausendwende bereits wurde der stadtnahe Kleingarten als privater Rückzugsort* und als Möglichkeit gesunder Ernährung wiederentdeckt. Kurz darauf begann man die Utopie öffentlicher Gärten, die von Stadtsehnsucht und nicht von einem Zurück-zur-Natur bestimmt war, zu verwirklichen. Nun hat der lange für tot gehaltene Wunsch nach ein wenig Revolution zwecks Verbesserung urbaner Lebensqualität auch die Verwaltungen infiziert.

Metropole

Wie so oft diente Berlin auch dieser anarchischen Bewegung als Versuchslabor. Entlang der ehemaligen Berliner Mauer erstrecken sich jedem offen stehende Gärten – auf Parkhäusern oder direkt an einer verkehrsreichen Kreuzung wie im Falle der „Prinzessinnengärten“. Letztere sind inzwischen weltbekannt. 2009 pflanzten Bewohner des Stadtviertels erstmalig auf dem brachliegenden* Grundstück Obst, Gemüse und Kräuter, die seitdem alle nicht im Beet, sondern in mobilen Kisten wachsen. Auch die Grundidee war neu: Dem heutigen Konsumverhalten, das durch den Transport von Lebensmitteln rund um den Globus und ihren massenhaften Wegwurf geprägt ist, wollten die Initiatoren Marco Clausen und Robert Shaw die Erfahrung des Pflanzens vor der Haustür entgegensetzen. Sie hofften, dadurch ein Bewusstsein für den Wert von Lebensmitteln zu wecken und gleichzeitig den Ressourcenverbrauch zu senken. Dass sie damit ein Bedürfnis des modernen Großstädters erkannt hatten, zeigt der Erfolg: Inzwischen gärtnern 700 Anwohner auf dem Grundstück, es gibt eine Gartenküche, Yogakurse und die Nachbarschaftsakademie, die Vorträge und Filmabende zu Lebensmittelverschwendung* und Klimawandel organisiert. Ein „Urban Gardening Manifest“ hängt am Eingang. Kinder entdecken den Unterschied zwischen Busch-, Stangen- und Dicken Bohnen, zupfen* Unkraut* und sind als die Konsumenten von morgen willkommen. Die Medien nannten dieses Pionierprojekt, das weltweit Nachahmer* findet, „Großstadtbiotop mit sozialem und kulturellem Mehrwert“ und „Gegenentwurf zur Agrarindustrie“. Nun reisen die Gründer um die Welt, um Privatleute und Stadtverwaltungen bei der Revolution zu beraten. Und sollten Investoren die Grundstücke kaufen – in dem Glauben, vom verbesserten Image des Stadtviertels zu profitieren – und mit Luxuswohnungen und begrünten Dachterrassen bebauen, werden die Gärtner ihre Pflanzen in Kisten unter den Arm packen und sich einen neuen Platz suchen. Denn moderne Gärten sind wie Städtebewohner selten tief verwurzelt.

Kleinstadt

Nicht bürgerschaftlich, sondern kommunalpolitisch initiiert, nicht mobil, sondern langfristig angelegt ist die „Essbare Stadt“ Andernach. Oberbürgermeister Achim Hütten freut sich über die inzwischen erzielte Aufwertung* unattraktiver Stadtgebiete sowie die Einbindung und Qualifizierung Arbeitsloser. Er ist begeistert von den „Blühräumen“, in denen „Menschen aufblühen“. Trotz anfänglicher Skepsis in der Bevölkerung verfolgt die Verwaltung seit 2010 die Idee, städtisches Grün nicht nur in Form von Parks als Orten der Erholung zur Verfügung zu stellen. Vielmehr möchte sie die Bürger der 30 000-Einwohner-Stadt durch urbane Landwirtschaft mit den Prozessen der Natur vertraut machen, indem sie in Parks und auf Baulücken* Nutzpflanzen wie Tomaten, Mangold, ja sogar Wein anbaut. Jedes Jahr wird eine Pflanze in ihrer ganzen Vielfalt präsentiert. 2011 konnten die Bürger beispielsweise 100 Sorten Bohnen bestaunen und pflücken. Durch die Auswahl heimischer Pflanzen soll für Nachhaltigkeit* und gesunde Ernährung sensibilisiert werden. Um ein solches Bewusstsein schon in Kindern zu verwurzeln, legte die Stadt einen Schulgarten an.

Seit zwei Jahren wird das Projekt „Andernach – Die Essbare Stadt“ mit Preisen überhäuft*. In Berlin etwa erhielt es 2014 bei der „Grünen Woche“ die ­Lenné-Medaille­ ­– den renommiertesten Preis für Gartenbau und Gartenkultur. Die Ironie der Geschichte: Was in den Berliner Prinzessinnengärten als Graswurzelrevolution* begann, erreichte auf dem Umweg über Andernach die Berliner Verwaltung. Denn als die Andernacher am Ende der Messe Berliner Schulen ihre Obstbäume schenkten, damit dort vielleicht etwas Ähnliches passiere wie am Rhein, freute sich der Leiter des Schul-Umwelt-Zentrums Mitte in Berlin sehr.

 

 

 Lesehilfe
der Anbau: Kultivieren von Nutzpflanzen
der Rückzugsort: Ort, an dem man von nichts gestört wird
brachliegend: ungenutzt
die Verschwendung: sinnloser Verbrauch
zupfen: mit den Fingerspitzen ziehen
das Unkraut: wild wachsende (nicht gewollte) Pflanze
der Nachahmer: jemand, der etwas möglichst genau kopiert
die Aufwertung: Wertsteigerung
die Baulücke: leeres Grundstück in einer Häuserreihe
die Nachhaltigkeit: Prinzip, nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als wieder hergestellt werden kann
überhäufen: sehr viel geben
die Graswurzelrevolution: politische oder gesellschaftliche Initiative, die aus der Basis der Bevölkerung entsteht

 

 

 

Aufgaben

1. Nennen Sie drei Punkte, die in den Prinzessinnengärten anders sind als im Kleingarten.

2. Was will der Oberbürgermeister von Andernach sagen, wenn er von „Blühräumen“, in denen „Menschen aufblühen“ spricht?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 

1. Jeder kann mitmachen; Bildungsprojekte; mobile Pflanzen
2. Städtische Gartenkultur macht Menschen glücklich

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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