Auferstanden aus der Kiesgrube*

Manchmal findet Geschichte ein versöhnliches Ende: Genau zwei Jahre nach dem Mauerfall begann der Abriss des Berliner Lenin-Denkmals. Drei Wochen vor dem 25. Jahrestag der Deutschen Einheit wurde nun sein Kopf aus einer Kiesgrube gehoben, was beinahe an seltenen Eidechsen* gescheitert wäre. Jetzt ist dem Revolutionär in einer Ausstellung ein Platz sicher.

Leninplatz /Platz der Vereinten Nationen: Helden hinterlassen Leerstellen. / Martin Püschel

Von Lucia Geis

Die Geschichte beginnt im April 1970. Ort ist der Leninplatz in Ost-Berlin. Der Vorsitzende des Staatsrats der DDR Walter Ulbricht und 200 000 Genossen versammeln sich, um die monumentale Lenin-Statue des russischen Bildhauers Nikolaj Tomskij zu enthüllen*. Der Held überragt* die Anwesenden um ein Vielfaches, aus 19 Metern Höhe schaut er auf seine Nachfolger herab.

1991 stehen am gleichen Platz – heute Platz der Vereinten Nationen – Bauarbeiter und ein versprengtes Häuflein* aufrechter Fans. Letztere tragen Transparente gegen die Demontage des Denkmals und rufen „Wir protestieren gegen die primitive Bilderstürmerei“. Die Polizei greift ein. Das Berliner Kammergericht hatte am gleichen Tag eine Beschwerde der Angehörigen des Bildhauers mit der scheindemokratischen Begründung zurückgewiesen, das Interesse am Abbau des Denkmals ergebe sich aus dem aktuellen Interesse der Allgemeinheit, eine Statue Lenins aus dem öffentlichen Straßenbild zu entfernen.

Was damals aktuell war, muss es heute nicht mehr sein. Und so kann Spandaus Kultur-Bezirksstadtrat Gerhard Hanke (CDU) Lenin als „Highlight“ der zukünftigen Spandauer Ausstellung feiern. Bis den Kuratoren die Ausgrabung für etwa 70 000 Euro zwecks öffentlicher Präsentation erlaubt wurde, mussten allerdings viele bürokratische Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Antikommunistische Bedenken spielten dabei weniger eine Rolle. Im September dieses Jahres wurde Lenins Kopf nach der Ausgrabung durch die ganze Stadt in ihren tiefsten Westen transportiert. Dass dies versteckt unter einer Plane geschah, begründete Petra Roland, Sprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, mit der Befürchtung einer „Prozession“.

Der Öffentlichkeit wird Lenin ab dem Frühjahr 2016 präsentiert. Dann soll die seit 2009 geplante, 14 Millionen Euro teure Ausstellung „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“ in der Spandauer Zitadelle (oft verwechselt mit dem nahen Kriegsverbrechergefängnis) endlich eröffnet werden.

Die Überlegung, lediglich den Kopf des Vaters des Leninismus zu zeigen, dürfte – rein materialistisch betrachtet – auf seiner übermenschlichen Größe beruhen. Warum man diesen aber liegend ausstellen will, darüber lässt sich nur philosophieren. Eine geschichtskritische Debatte hat Andreas Nachama, der Leiter der Berliner Stiftung „Topographie des Terrors“, ausgeschlossen: „Wir reden hier nicht über Entscheidungen, die vor 24 Jahren getroffen wurden. Wir reden über Skulpturen und dieses Monument.“

Symbolisiert die Haltung also den Schlaf der Vernunft, das gerichtete* Haupt oder den Kopf im Sand? Möchten die Ausstellungsmacher einfach einen Sockel* vermeiden oder Lenin nach all dem Auf und Ab der letzten 45 Jahre ein Nickerchen* vor dem nächsten Kampf gönnen*?

Fest steht dagegen, dass neben Lenin über 100 weitere Exponate zu sehen sein werden, darunter viele Marmorbüsten ruhmreicher Hohenzollern aus der 1901 von Wilhelm II. eingeweihten Siegesallee. Diese hatte der Berlin- wie Demokratieverächter* seinem Volk als Gegenpol zum Reichstagsgebäude, das er als „Reichsaffenhaus“ diffamierte*, geschenkt. Die Berliner dankten es ihrem Kaiser nicht und bespöttelten* die Prachtstraße als „Puppenallee“.

Papier ist geduldig, sagt man, Stein erst recht. Und so wird Lenin gegen seine zukünftige Welt nicht revoltieren. In der Kiesgrube am Ostberliner Müggelsee hätte er allerdings unbehelligter* von feudalistischem Geprotze* als Fossil* ruhen können und die dort lebenden Zauneidechsen nicht gestört. Erst seine geplante Ausgrabung machte die Reptilien zu Faktoren des politischen Kampfes, und Umweltschützer meinten, für sie Partei ergreifen* zu müssen. Sie fürchteten, die enormen Umwälzungen* der Erde im Zuge der Bergung* des 3900 Kilogramm schweren Giganten könnten deren Reproduktion beeinträchtigen*. Ein Streit entbrannte*, und erst nach Jahren gelang es, Lenin- und Tierfreunde zu versöhnen, indem man eine Umsiedlung der Eidechsen auf den nächsten Hügel vorschlug. Ein Diplombiologe erstellte eine zwölfseitige Expertise, die Oberste Naturschutzbehörde eine siebenseitige Ausnahmegenehmigung. Da kann man nur mit Lenin sagen: „Ist nicht sofort ersichtlich, welche politischen oder sozialen Gruppen, Kräfte oder Größen bestimmte Vorschläge, Maßnahmen usw. vertreten, sollte man stets die Frage stellen: Wem nützt es?“

 

 

 

 

*Lesehilfe
die Kiesgrube: Abbaustelle für Kies (groben Sand)
die Eidechse: kleines, die Wärme liebendes Kriechtier (Reptil)
enthüllen: etwas durch Entfernen einer Hülle (Abdeckung) der Öffentlichkeit übergeben
überragen: höher sein
das versprengte Häuflein: kleine, nicht dazugehörende Gruppe
das gerichtete Haupt: durch Hinrichtung abgeschlagener Kopf
der Sockel: Block, auf dem etwas steht
das Nickerchen: kurzer Schlaf
gönnen: neidlos zugestehen
der Verächter: jemand, der etwas stark ablehnt
diffamieren: jemanden/etwas in seiner Würde verletzten
bespötteln: sich lustig machen
unbehelligt: ungestört
das Geprotze: Demonstration von Reichtum
das Fossil: Versteinerung
Partei ergreifen: jemanden verbal unterstützen
die Umwälzung: extreme Veränderung (das Untere kommt nach oben)
die Bergung: Sicherung, Rettung
beeinträchtigen: hinderlich sein
entbrennen: (hier) anfangen

 

 

Aufgaben

1. Welcher Art hätte die „Prozession“ sein können, die die Sprecherin der Senatsverwaltung ansprach?
2. Was sagt es über die Berliner, dass sie über den Kaiser lachten?
3. Wo war das Lenin-Denkmal in Berlin nie?
a) auf dem Leninplatz; b) am Müggelsee; c) im Kriegsverbrechergefängnis

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 

1. Viele Lenin-Fans; 2. Sie waren für die Demokratie; 3. c

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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