Die Kartoffeln und das kleine Glück

Wer in größeren Städten Deutschlands Bahn fährt, sieht sie. Entlang der Gleise erstrecken sich* Obstbäume, schwarz-rot-goldene Flaggen und Häuschen in Reih und Glied*: die Schrebergarten-Kolonien*. Ihr Namensgeber war der Arzt Schreber, der das Leben in den Städten gesünder gestalten wollte. Nun erlebt seine Idee eine Renaissance.

Freiraum statt Gartenzwerg-Paradies. / Ziko van Dijk

Von Lucia Geis

Ralf floh 1980 aus der idyllischen Provinz der BRD in die eingemauerte Großstadt Berlin. Ihn interessierte Kultur, die in Hinterhöfen gedieh*, wogegen Natur etwas für Spießer* in Westdeutschland war. Kartoffeln gab‘s im Supermarkt. Heute verbringt der 57-Jährige den Sommer im eigenen Schrebergarten. Die sechs- und achtjährigen Jungs von seiner Nachbarparzelle* lieben Salat, worüber alle außer ihren Eltern Christoph und Anne staunen, mögen Kinder doch sonst nur Spaghetti mit Tomatensauce. Sieben längst erwachsene Kinder hat das Neugärtner-Paar von gegenüber. Christine wurde in Ostberlin geboren, Radouane kam 1978 aus Algerien an die Berliner Humboldt Universität. Die algerischen Freunde halten ihn jetzt für superdeutsch.

Was diese Menschen einzig verbindet, ist ihre jüngst entdeckte Liebe zu Schrebergärten, für die sie bis vor Kurzem bestenfalls ein Lächeln übrig hatten. Und jetzt zählen sie trotzdem zu den 67 961 Pächtern* in Berliner Kolonien mit Namen wie „Friede und Arbeit“, „Germania“ oder „Lebensfreude“.

Geist der Vergangenheit

Moritz Schreber, 1808 in Leipzig geboren, war Arzt des russischen Fürsten Alexej Somorewskij, den er auf Reisen nach Westeuropa begleitete. Als Zeugen der frühen Industrialisierung beschäftigte ihn die Gesundheit der Arbeiter und ihrer Kinder. 1864 legte sein Schwiegersohn in Leipzig einen Spielplatz an, den er „Schreberplatz“ taufte. Schnell kamen Kinder- und Familienbeete* hinzu und 1870 gab es bereits 100 Gärten (in Berlin gründeten Rotes Kreuz und Arbeiterbewegung zeitgleich Laubenkolonien*). Leipzig ist heute nationaler Spitzenreiter*: Auf 100 Einwohner kommen sechs Schrebergärten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg förderten deutsche Kommunen solche Gärten in der Hoffnung, die Nahrungsknappheit zu mildern. Walter Ulbricht, führender Politiker der DDR, wollte sie zwar abschaffen, da sie zum Sozialismus so wenig passten wie der Papst, dennoch wuchsen sie bis in die 80er Jahre zu einer Obst und Gemüse erzeugenden Parallelwirtschaft heran. Im westdeutschen Wirtschaftswunderland* litt dagegen ihr Image. Das Eigenheim* außerhalb der Stadt galt hier als Statussymbol und die Städter fanden es bequemer, Marmelade zu kaufen statt zu kochen. Die Nachkriegsgeneration sah hinter den Gartenzäunen nur den Geist der Vergangenheit: Deutschtümelei* und typisch deutschen Ordnungswahn. Unrecht hatte sie damit nicht: Nationalflaggen und Volksmusikklänge wehten über akkurat geschnittenem Rasen, der Gartenzwerg charakterisierte den Pächter, Schnecken drohte die Chemiekeule, die Vereinsordnung hing an jedem Kolonietor.

Seit der Jahrtausendwende ändert sich das Bild jedoch, da zunehmend junge Familien Parzellen pachten. Mit jährlich 400 bis 500 Euro ist man dabei. Die Nachfrage übersteigt zurzeit das Angebot deutlich, sodass die Wartezeit bis zu vier Jahre beträgt.

Liebe auf den zweiten Blick

Der Grund für diesen Sinneswandel* dürfte in einem allgemeinen „Zurück-zur-Natur“ liegen. Radouane schwärmt* wie Ralf von Singvögeln und reiner Luft, Christine will dem Konsumwahn der Stadt zumindest zeitweise entfliehen. Deshalb pflanzt und gießt sie Erdbeeren, um diese im Sommer sonnengereift* zu ernten, statt sich das ganze Jahr lang über geschmacklose aus dem Supermarkt zu ärgern. Christoph und Anne wollen ihren Kindern zeigen, dass nicht Pommes Frites in der Erde wachsen, sondern Kartoffeln, und Tomaten nicht nur als Ketchup existieren.
Die Berliner Soziologin Elisabeth Meyer-Renschhausen vermutete in der Wochenzeitung „Die Zeit“, anders als in den 60er und 70er Jahren gehe es jungen Leuten nicht mehr um die Weltrevolution, sondern um Veränderungen im Kleinen. 54% arbeiten deshalb biologisch und Gartenzwerge sind in diesen Biotopen* fast ausgestorben. Ralf baut stattdessen Metallschrottskulpturen*, während er sich auf die Ernte der biologischen Kartoffeln freut. Zwischendurch rufen ihn die zwei Jungs von nebenan, um ihm stolz die dickste Schnecke aus ihrem Salatbeet zu zeigen und von der Parzelle gegenüber ertönt plötzlich Jubel: Radouane schleppt mit seinen Söhnen eine Spülmaschine über den Grasweg, damit künftig auch nach dem Essen alle beim Kirschenentsteinen* die Seele baumeln* lassen können.

 

In der nächsten Ausgabe der MDZ geht es um politisch-soziale Aspekte neuer Formen der urbanen Landwirtschaft.

 

 

Lesehilfe

sich erstrecken: ein großes Gebiet einnehmen
in Reih und Glied: gerade in einer Reihe
die Schrebergarten-Kolonie: städtisches Gebiet mit kleinen Gärten
gedeihen: gut wachsen
der Spießer: Durchschnittsmensch
die Parzelle: Stück Land
der Pächter: Mieter, dem das dort Entstandene (z. B. Obst, Gemüse) gehört
das Beet: eingegrenzter Boden zum Pflanzen
die Laube: (Holz-)Häuschen im Garten
der Spitzenreiter: die Nummer Eins
das Wirtschaftswunderland: das wirtschaftlich erfolgreiche Westdeutschland der 50er und 60er Jahre
das Eigenheim: Haus, das einem gehört
die Deutschtümelei: Verhalten, das wirkliche oder behauptete deutsche Traditionen zu stark betont
der Sinneswandel: Einstellungsänderung
schwärmen: begeistert von etwas sprechen
sonnengereift: von der Sonne und nicht im Glashaus gereift
das Biotop: Natur mit besonderer Pflanzen- und Tierwelt
der Metallschrott: wertloses Metall
das Kirschenentsteinen: Kerne aus Kirschen entfernen
die Seele baumeln lassen: sich entspannen

 

 

 Aufgaben

 

 1. Warum sind die Schrebergärten entstanden?

2. Welcher Aspekt spielt bei der neuen Beliebtheit der Schrebergärten keine Rolle?

Geschmack des Obstes, Wissen der Kinder, Tradition, Entspannung, Singvögel

 

 

 

 

 

 

 

  Lösungen 

 

  1. Zur Gesundheitsverbesserung der Arbeiter und Kinder 2. Tradition

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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