Mord am Strand

Die Deutschen planen gern. Die Deutschen arbeiten viel. Und die Deutschen reisen wie die Weltmeister. Am liebsten im Sommer. Und weil alles perfekt sein muss, planen sie auch ihre Reise. Bis ins kleinste Detail. Einschließlich der Reiselektüre. Wie und wozu stellen sie sich dieser Aufgabe?

Der Mörder ist niemals der Leser. / Lucia Geis

Von Lucia Geis

Das Taxi zum Flughafen ist bestellt, der Herd garantiert ausgeschaltet. Jetzt noch schnell zum Bücherregal und ein Buch geschnappt*. So einfach könnte es sein. Aber das Risiko ist zu groß, denn vielleicht gehört es zu den längst verstaubten* Geschenken. Außerdem setzt diese Strategie im Bücherregal stehende ungelesene Bücher voraus. Eine Alternative wäre, einen E-Reader zu kaufen und die Tipps von allen Freunden herunterzuladen. Aber ein E-Reader im Freien? Er dürfte Sand oder Alpenregen kaum überleben. Was also tun, damit die schönste Zeit des Jahres nicht zur Katastrophe wird?

Strategie eins

Nachdem man schon an den Weihnachtstagen eine Sommerreise gebucht hat, lässt man zu Neujahr die Gedanken schweifen* und sucht in seinem Kopf nach einem Autor aus dem erwählten Land. Auch einer, der über das Land geschrieben hat, wird erwogen*. Als Deutscher will man zum Beispiel nach Venedig. Extravagante Lektüre böte der Venezianer Tiziano Scarpa, der einem rät, sich in der Stadt zu verirren* und die Sehenswürdigkeiten links liegen* zu lassen. Deutscher Standard wären die Venedig-Krimis der Amerikanerin Donna Leon, deren Reiz aber dadurch geschmälert* wird, dass Italiener sie ignorieren. Will der Reisende etwas für seine Bildung tun, käme Thomas Manns „Tod in Venedig“ in Frage. Der deutsche Philosoph Walter Benjamin schrieb im Pariser Exil, die meisten Stadtbeschreibungen seien nicht von Einheimischen, sondern von Fremden. Denn diese könnten über das Exotische schreiben, jene aber reflektierten zwangsläufig immer Kindheit und Geschichte. Niemand kann dem Reisenden allerdings die Entscheidung darüber abnehmen, was er von seiner Urlaubslektüre erwartet: ob er Exotisches durch fremde Augen sehen will; ob er es vorzieht, den Kopf voll mit Thomas Manns Bildern von Pest und hoffnungsloser Liebe zum Essen vom Strand in die Stadt zurückzukommen; oder aber gern nach einem Lagunenspaziergang den Abend mit einem Buch des Italieners Claudio Magris verbringt, in dem er mit den dortigen deutschen Bunkern konfrontiert wird.

Der Sinn dieses Vorgehens besteht darin, einmal im Jahr darüber nachzudenken, was einen interessiert, warum man reist, warum man liest.

Strategie zwei

Wer sich solch existentielle Fragen nicht stellen will oder sie nicht beantworten kann, findet wie zu allen Lebensthemen schnelle Tipps in Zeitungen und Internet. Die Frauenzeitschrift „Brigitte“ empfahl 2014 online ein Sammelsurium* vom Krimi bis zum Klassiker, alle gleich per Klick bestellbar und begleitet von Zitaten, sodass die Leserin nach dem Sommer glänzen konnte, ohne das Buch aufgeschlagen zu haben. „Die Zeit“ ließ online 22 Schriftsteller Bücher präsentieren, die man „unbedingt lesen sollte“, darunter einen sechsbändigen Roman. Wer sich jetzt fragt, wie lange man Urlaub haben muss, um diesen nicht mit einem schlechten Gewissen zu beenden, ist vermutlich kein Bücherwurm*.

Warum veröffentlichen Medien solche Tipps? Wenn die Wirtschaft im Sommer pausiert, fehlen auch deren Anzeigen, die diese brauchen. Nur Reiseveranstalter, Bierverkäufer, Gartenausstatter* bleiben aktiv. Der Buchmarkt macht sein Geschäft dagegen vor allem um Weihnachten. 2013 wurden in dieser Zeit 24% aller Bücher verkauft. Und obwohl 2014 der Jahresumsatz* gegenüber dem Vorjahr um 2,2% sank, erzielte das Weihnachtsgeschäft ein Plus von 2,9%. Zur Jahresmitte benötigt der Buchhandel also einen Schub*, und die Medien finden in ihm einen willkommenen Partner, vorausgesetzt sie schreiben über alles, was sich gut verkauft: die Bestseller des Jahres und nahezu jeder Krimi. Als im Juni 2014 wegen der Fußballweltmeisterschaft im Vergleich zum Vorjahresmonat* 6,2% weniger umgesetzt wurden, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Thriller aus Amerika, Schweden und Deutschland sollen für Sommerumsatz im Buchhandel sorgen.“

Warum sind Krimis im Urlaub so beliebt? Sie dienen dem Aggressionsabbau: Der fiktive Mörder wird zum Stellvertreter*, indem er den Chef umbringt, während man selbst am Strand schmökert* und der venezianischen Polizei nie begegnet. In der Wahl eines Krimi-Bestsellers liegt somit die ideale Lösung, denn er bietet sowohl das perfekte Verbrechen als auch die Garantie, nach dem Urlaub in jedem Fall Gesprächsstoff* für das Wiedersehen mit den Kollegen zu haben. Und der ist hilfreich, wenn man über das Scheitern* aller Pläne – den Regen, das Hotel an der Autobahn, den schmutzigen Strand und die unterdrückte Wut – schweigen will.

Strategie drei

Zwei Tage vor Reisebeginn besucht man eine der fast 6000 Buchhandlungen in Deutschland, am besten eine kleine. Hier kann jeder mit dem Buchhändler plaudern*, bevor dieser ein Buch auswählt. Während man blättert, wird ein anderes daneben gelegt, in dem man kurz darauf versinkt*, obwohl es nicht nach Venedig, sondern in eine viel fernere Welt entführt. Der Urlaub erscheint jetzt fast unwichtig, trotzdem reißt man sich los*, um nach einem Venedig-Reiseführer zu fragen, den der Buchhändler für morgen bestellt. Die fernere Welt packt er ein, und die Nacht vergeht lesend und in der Freude darauf, morgen erneut die Buchhandlung zu betreten und statt des Reiseführers weitere Literatur nach Hause zu tragen.

Von den 22 Autoren, die für „Die Zeit“ ihre Lesetipps verrieten, sagte nur einer: „Ich kann mich in keine Leserin oder keinen Leser hineindenken, die oder der im Sommer etwas anderes lesen möchte als im Winter.“ Dem wird zustimmen, wer Strategie drei über ein paar Jahre verfolgt hat. Die kleine Buchhandlung hat sich zur Stammbuchhandlung* entwickelt, der Buchhändler zum geschätzten Gesprächspartner. Man selber wurde durch ihn zum Leser, der im Regal immer Bücher hat, die er unbedingt lesen will. Mit Plänen für seine Urlaubslektüre muss er sich nicht mehr plagen*, sondern kann sich risikofrei ein Buch schnappen, wenn das Taxi vor der Tür steht.

 

 

 *Lesehilfe

schnappen: schnell nehmen
verstaubt: mit Staub bedeckt; (übertragen) zu alt
die Gedanken schweifen lassen: unstrukturiert denken
erwägen: gedanklich prüfen
sich verirren: die Orientierung verlieren
links liegen lassen: ignorieren
schmälern: verringern
das Sammelsurium: chaotische Sammlung
der Bücherwurm: einer, der sehr viel liest
der Gartenausstatter: Geschäft mit Allem für den Garten
der Jahresumsatz: Bruttoeinnahmen in einem Jahr
der Schub: der Impuls
der Vorjahresmonat: gleicher Monat im letzten Jahr
der Stellvertreter: jemand, der an Stelle eines anderen etwas macht
schmökern: ohne Anstrengung lesen
der Gesprächsstoff: Thema für ein Gespräch
das Scheitern: Nicht-Funktionieren
plaudern: sich entspannt unterhalten
versinken: (übertragen) nichts anderes mehr bemerken
sich losreißen: (übertragen) ungern beenden
die Stammbuchhandlung: häufig besuchte Buchhandlung
sich plagen: sich qualvoll bemühen

 

 

 Aufgaben

1. Wodurch wird das Planen der Urlaubslektüre kompliziert?

a) in Deutschland gibt es zu viele Bücher;
b) Deutsche möchten den perfekten Urlaub;
c) es gibt zu wenige Bücher über Exotisches.

2. Welche Aussage ist falsch?

a) Weihnachten werden viele Bücher verkauft;
b) im Juni 2013 wurden mehr Bücher verkauft als im Juni 2014;
c) im Sommer werden wenige Thriller gekauft.

3. Welchen Vorteil haben kleine Buchhandlungen?

a) Gespräche mit dem Buchhändler;
b) viele Bücher über ferne Welten;
c) spezialisiert auf Reiseführer.

 

 

Info

Zahlen zum deutschen Buchmarkt

Jahresumsatz 2014: 9,3 Mrd. Euro (2013: 9,5 Mrd.).
Art der gekauften Bücher: Belletristik 32,4%, Ratgeber 14,9%.
Geschlecht und Alter der Käufer 2013: 58% sind weiblich, 36% sind 40–59 Jahre alt, 22% sind 20–39.
2013 gekaufte Bücher pro Person über 14 Jahre: 1–2 Bücher 12,02 Millionen, 20 Bücher und mehr 3,28 Millionen, insgesamt 41,6 Millionen Buchkäufer über 14 Jahre (entspricht einem Bevölkerungsanteil von 59,3% dieser Altersgruppe; 40,7% kauften also kein Buch).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lösungen

 

 1. b 2. c 3. a

 

 

 

 

 

 

 

 
Подписаться на Московскую немецкую газету

    e-mail (обязательно)

    Добавить комментарий

    Ваш адрес email не будет опубликован. Обязательные поля помечены *